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September 2025

| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Auf dem Weg zu mir selbst

By Interview
Interview erschienen in …

Auf dem Weg zu mir selbst

Berge tun der Seele gut. Aber können sie auch Probleme lösen? Marie Van Elst hat es ausprobiert und liess sich von Pauli Trenkwalder in den Bergen Südtirols zu sich selbst führen.

Was für ein Anblick! Der Himmel über dem gut 2000 Meter hohen Jaufenpass nahe Sterzing strahlt blauer als von der schönsten Postkarte. Am liebsten würde ich einfach genau hier bleiben und mich sattsehen. ,,Dort wollen wir heute rauf.“ Pauli Trenkwalder, mein Bergführer, zeigt in Richtung Gipfel. Ich kneife die Augen zusammen. Die Sonne blendet mich. Irgendwo zwischen Wiese und Fels kann ich einen schmalen Weg erkennen. Sieht steil aus. Ob mir beim Anstieg genug Atem zum Reden bleibt? Schließlich bin ich deshalb hierhergekommen.

 

Etwas verändern

Es ist nämlich so: Ich bin ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten. Job, Familie, Partnerschaft und der Wunsch, auch ein bisschen noch mein eigenes Ding zu machen – irgendwann dachte ich mal, ich bekäme das alles locker unter einen Hut. Aber ich merke immer mehr, wie ich ständig meinen eigenen Ansprüchen hinterherhetze. Zumal ich auch gerne noch jedes zusätzlichePäckchen mitnehme, das das Leben mir vor die Füße wirft. ,,Klar, das schaff ich auch noch“, denke ich dann. Doch langsam geht mir die Kraft aus. Und ich würde sie mir sehr gerne zurückholen.

Pauli Trenkwalder kennt diesen Wunsch. Seit 14 Jahren arbeitet er als Psychologe. Und zwar ohne Couch und Praxis, sondern in den Bergen. Der 44-Jährige ist in Südtirol aufgewachsen. Sein Vater arbeitete bei der Bergrettung, Pauli klettert, seit er laufen kann. Er weiß, wie gefährlich die Berge sind, aber auch, wie gut sie der Seele tun können. Deshalb hat er vor ein paar Jahren beides verbunden – Psychologie und Wandern. ,,Bei meiner Arbeit als Bergführer habe ich gemerkt, dass die Menschen hier draußen besser über sich selbst und ihre Gefühle reden können. Für mich als Psychologen sind das optimale Voraussetzungen.“ Zu ihm kommen Leute mit Beziehungsproblemen, die Orientierung suchen oder bei einer schweren Entscheidung unterstützt werden wollen. Pauli setzt bei seiner Form der Therapie vor allem auf geteilte Zeit, gemeinsame Erlebnisse und den natürlichen Rhythmus, der sich beim Wandern ergibt. Ich allerdings zweifle noch, ob ein einziger Tag ausreicht, um mich einem Fremden zu öffnen.

 

Nichts Anmerken lassen

Als wir losgehen, ist der Weg breit und relativ flach. Ich nehme die ersten Meter so schnell, dass ich direkt außer Atem bin. Für den blauen Himmel, die blühenden Wiesen und die mächtigen, zum Teil selbst jetzt im Sommer noch weiß getupften Berge rundum habe ich gar kein Auge. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, so geräuschlos wie möglich weiterzuatmen, damit Pauli mir die Anstrengung nicht anmerkt. An der ersten etwas schwierigen Stelle will er mir die Hand reichen. ,,Ich schaffe das schon!“, sage ich, und es klingt schroffer als beabsichtigt. Eigentlich ist es mir auf dem engen Steig mit dem dünnen Drahtseil als einzigem Halt nämlich schon etwas mulmig. Pauli lächelt verständnisvoll, und die kleinen Falten um seine grünen Augen graben sich tiefer in seine sonnengebräunte Haut. Ich lächle zögerlich zurück. Was er jetzt wohl von mir denkt?

„Die Menschen denken, ich könnte sie lesen wie ein Buch“, sagt er in die Stille. Ich fühle mich ertappt. Viele glaubten, so Pauli, dass man als Psychologe lerne, alles zu deuten und zu interpretieren. Das stimme zwar nicht, aber dennoch nutze er diesen Irrtum gerne, um seinen Klienten am Berg näherzukommen und das Ungesagte, das, was wirklich auf ihrer Seele liege, aus ihnen herauszukitzeln. ,,Oft geht es bei meiner Arbeit darum, Verhaltensmuster aufzudecken.“ Viele stammen noch aus der Kindheit. Sie haben sich zu irgendeinem Zeitpunkt bewährt. Doch jetzt stören sie. So wie mein Drang, keine Schwäche zu zeigen. Schule, Uni, Job – er war lange mein Motor. Doch jetzt, wo ich in meinem Leben angekommen bin, hindert er mich daran, Ruhe zu finden. Ich gönne mir keine Pausen.

 

Müssen oder Wollen

Pauli übernimmt die Führung. Ich lasse ihn das Tempo bestimmen. Wir werden langsamer. Endlich kann auch ich meinen Blick schweifen lassen, registriere die weiß blühenden Heidelbeersträucher am Wegesrand, die wilden Blumen auf den Wiesen und die mächtigen Ötztaler Alpen am Horizont. Ich atme tief durch und versuche, diese unglaubliche Weite in mir aufzunehmen. Während meine Schritte endlich ihren Rhythmus finden und sich mein Atem normalisiert, geht Pauli in Vorleistung und erzählt viel über sich, seine Tochter und seine Frau, mit der er sich immer über die richtige Methode zum Wäscheaufhängen zankt. Ich lache, bleibe stehen. Unter uns, im Jaufental, versprechen einzelne Holzhäuser Geborgenheit, wie man sie aus den Geschichten von Heidi kennt. Über uns zieht ein Adler seine Kreise.

Ich merke, wie meine Schale knackt. Ich gehe weiter und muss an meine Familie denken, meinen Alltag, meine Arbeit. ,,Wo bist du jetzt?“ Paulis Frage schreckt mich auf. ,,Ich weiß es nicht.“ Die Gedanken sind zu schnell. Ob mein Mann die Waschmaschine in meiner Abwesenheit mal angeschmissen hat? Schaffe ich die liegen gebliebene Arbeit auf meinem Schreibtisch? Vermissen mich die Kinder? Alle Fragen stellen sich gleichzeitig, so wie im Alltag oft alle Aufgaben. Ich bin überwältigt von dem Gefühl, mich um so vieles kümmern zu müssen. ,,Musst du das wirklich?“, fragt Pauli.

 

Den Blickwinkel ändern

Nach gut 45 Minuten Wandern sind wir bei einer zentralen Frage meines Lebens angelangt. ,,Muss ich das wirklich?“ Ich glaube schon. Trotzdem gestehe ich Pauli, wie ich mich abends manchmal ins dunkle Schlafzimmer schleiche, während meine Söhne mit meinem Mann die Zähne putzen. Fünf Minuten Ruhe und Stille. ,,Das ist doch großartig“, sagt Pauli. ,,Da hast du doch einenwunderbaren Weg gefunden, um deine Belastung abzumildern und dich zu entspannen.“ – ,,Aber es sind doch bloß fünf Minuten“, erwidere ich. ,,Viele Menschen schaffen selbst das nicht. Da sind alle Ventile zu. Dann kommt der Burn-out.“

Bisher habe ich meine Minuten im Schlafzimmer immer als Flucht gewertet. Ich bin nicht bei den Kindern, helfe meinem Mann nicht. Pauli dreht den Gedanken einfach um. Ich bin überrascht, wie einfach man den Blickwinkel wechseln kann. Natürlich gelingt das nicht immer so leicht. Aber die Idee beschwingt mich. Obwohl der Pass zum Gipfel hin immer schmaler und steiler wird, werden meine Schritte leichter und sicherer. Ich spüre die warme Sonne. Wie schön es hier ist! In mir wächst das Gefühl, mit einem Freund unterwegs zu sein. Die Sorte, die nicht nur redet, sondern auch fragt und einen herausfordert.

 

Auf dem Weg

Die letzten Schritte zum Gipfel lässt Pauli mich allein gehen. So habe ich alles einen Moment lang für mich – meine Gedanken, die schroffen Felsen und diese unfassbare Aussicht. Bis zum Horizont türmen sich die Berge wie Wellen. Manche sind mit vollen Wäldern bewachsen, andere schneebedeckt. Ich komme mir klein und gleichzeitig wahnsinnig groß vor. Ich fühle mich stark und voller Energie. Eigentlich ist es doch ganz gut, mein Leben. Ich muss nur öfter durchatmen. Im dunklen Schlafzimmer oder eben hier in den Bergen. Diesen Gedanken werde ich festhalten und mitnehmen – auf meinem Weg ins Tal und in meinen Alltag.

 

Coaching in den Bergen und Anreise

Pauli Trenkwalder erklimmt mit seinen Klienten je nach Wunsch Gipfel oder führt sie auch auf mehrtägige Touren. Preis nach Absprache. Menschundberg.com
Anreisen nach Südtirol kann man gut mit der Bahn (bahn.de). Von München über den Brenner gibt es täglich fünf direkte Verbindungen nach Bozen. Von dort geht’s zu den weiteren Reisezielen bequem und günstig mit dem gut ausgebauten Nahverkehrssystem. Nähere  Informationen finden sich unter suedtirol.info/anreise

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Selfie. Ortler, Südtirol | Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Meine Couch, der Berg

By Interview
Interview erschienen in 

Meine Couch, der Berg

Pauli Trenkwalder führt berufsmäßig in die Berge. Und wenn erwünscht, geht er dort auch Problemen seiner Klienten psychologisch auf den Grund.

Eine Friseurin, die in einem neuen Beruf noch einmal neu beginnen will? Ein Jungunternehmer, der bei der Firmenübernahme auf unerwartete Probleme stößt? Ein Mann, der es nie länger als drei Jahre schafft, eine Liebesbeziehung aufrecht zu erhalten?

Wer zu Pauli Trenkwalder kommt, will, wenn nicht ein Problem lösen, so doch wenigstens eines besprechen – oder aber: will ganz einfach nur auf einen Berg steigen. Im Idealfall wollen Trenkwalders Klienten beides. Doch der Idealfall ist für Trenkwalder auch am anstrengendsten: Er muss dann zwei Jobs gleichzeitig erledigen. „Das geht, aber man muss sehr strukturiert
vorgehen“, sagt er.

Wer wissen will, was für Jobs der 45-jährige Mann aus Gossensaß da so verbindet, erfährt es auf seiner Homepage ganz genau: „Psychologe Mag. rer. nat.“ steht da, und „Berg- und Skiführer“, „Klinischer und Gesundheitspsychologe“, „Systemischer Coach“. Mag. rer. nat. steht im Lateinischen für Magister rerum naturalium, Magister der Naturwissenschaften. Die akkurate
Anführung des akademischen Titels mag zunächst etwas penibel erscheinen. Bergführer mögen in Sachen Sicherheitstechnik kleinlich zu sein – aber darüber hinaus? Als kleinlich oder gar als
Kleingeister gelten sie in der Regel jedenfalls nicht. Wie auch, wenn sie auf jedem Gipfel in die weite Welt schauen können?

In der Silbergasse in Gossensaß öffnet uns ein aufgeräumter Mag. rer. nat. die Tür seines Zuhauses. Aufgeräumt, das heißt bei Trenkwalder eine Schirmmütze über das lange Haar, sportliches Arc‘teryx-T-Shirt, intakte Blue Jeans, Scarpa-Laufschuhe neueren Modells, ein freundlich lächelndes Gesicht. Die angesagten Labels gehören gewissermaßen zum Erscheinungsbild Trenkwalders, denn der Mann ist sowohl Markenbotschafter des kanadischen Outdoor-Ausrüsters als auch des italienischen Bergsport-Schuhherstellers.

Donnerstagnachmittag vergangener Woche. Als Vorhut stürmt mit fliegenden Ohren zunächst ein rotbraunes wuddeliges Etwas aus dem Haus: Es ist Lulu, der Hund der Familie Trenkwalder und sprichwörtlich aus dem Häuschen. Herrchen Pauli weilt noch für einige wenige Tage zuhause. Nach dem Corona bedingten Lockdown hat auch die Bergführerei langsam wieder Fahrt aufgenommen. Am Wochenende steht für ihn ein Arbeitstermin in Arco an, danach folgt, vom Pustertal ausgehend, eine kleine Alpenüberquerung mit zwei in die Jahre gekommenen Stammkunden.

„Mir ist es gelungen, meine Arbeit über das ganze Jahr zu verteilen und in der Regel nicht mehr länger als vier bis fünf Tage fortzubleiben. Auch bin ich nicht mehr so saisonabhängig“, sagt Trenkwalder. Wenn er zwischen seinen Touren jeweils ein paar Tage zuhause ist, dann sei er das „richtig“, ergänzt er kurz später beim Kaffeemachen in seiner Küche. Richtig, das heißt für ihn die Rolle des Hausmanns, Vaters und Gatten gewissenhaft wahrzunehmen. Im Lockdown kam der Rolle des Vaters auch die Rolle des Hauslehrers seiner elfjährigen Tochter Nora zu, erzählt er.

Pauli Trenkwalder versteht es, umgehend eine angenehme Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Mag bereits sein lieblich und unkompliziert klingender Vornamen vertrauenerweckend klingen,
so gehört die Schaffung einer angenehmen Gesprächsatmosphäre doch auch zu seinem Geschäft. Sowohl zum Geschäft des Bergführers, als auch – und hierin ungleich noch mehr – zu dem des ausgebildeten Psychologen. Die Kombination der beiden Berufe macht Trenkwalder zu einem Exoten innerhalb der beiden Zünfte. „Es muss halt jeder sein Platzl finden“, sagt Trenkwalder lapidar und schmunzelt.

Im deutschsprachigen Raum kennt er nur drei Kollegen mit einem ähnlichem Nischenangebot. Mit zwei davon arbeitet er zusammen. Einer, Martin Schwiersch, ebenfalls Psychologe und Bergführer, holte ihn als Diplomand zu Gruppe der Sicherheitsforschung des Deutschen Alpenvereins (DAV); im DAV ist Trenkwalder bis heute als Ausbilder und Referent in den Bundeslehrteams Bergsteigen und Sportklettern tätig. Mit dem anderen Kollegen, mit Jan Mersch, bietet er über die Homepage „Mensch und Berge“ psychologische Beratung und Betreuung an – für Privatpersonen, Führungskräfte sowie Teams und Gruppen. Auf Wunsch hält man Vorträge und Seminare, die schwerpunktmäßig Fragen nachgehen wie: Was macht gute Führung aus? Wie lernt man gut zu führen? Warum führt man eigentlich?

Warum Trenkwalder selbst führt – zumindest als Bergführer in den Bergen – ist schnell erzählt. Als Kind in Wiesen Pfitsch als Sohn eines Bergretters und Handwerkers mit eigenem Kleinbetrieb aufgewachsen, war er und seine beiden Geschwister nicht nur von Bergen umgeben, sondern stets auch in ein ausgesprochen bergsteigerisches (Familien-) Ambiente eingebettet. Zusammen mit seinem Bruder begab er sich alsbald in immer steilere Wände, reifte zum ausgewachsenen Alpinisten heran, dem die Bergführerei nur als eine konsequente berufliche Fortsetzung seiner Leidenschaft erschien. Es war ausgerechnet der bergbegeisterte Vater, der ihn zunächst mit einer gewichtigen Frage einbremste: „Wie willst du von deinem Bergführer-Job leben?“

Also begann Trenkwalder zunächst Architektur zu studieren, wechselte nach dem ersten Studienabschnitt kompromisslos die Route, um in das Psychologiefach einzusteigen. Währenddessen machte er sich mit Bergführer-Freunden wie Helmut Gargitter oder Renato Botte immer wieder in die weite Welt auf, um sich auf kleinen Expeditionen am liebsten an großen, weitgehend unbestiegenen Wänden auszutoben. Entlegene Regionen in Ländern wie Madagaskar, Mali, Namibia, Venezuela, Chile oder China – um nur einige zu nennen – war ihm dabei am liebsten. Irgendwann reifte in ihm die Idee, die Psychologie mit der Arbeit des Bergführers zu kombinieren. Gedacht, getan: 2003 nahm er sein Bergführer-Diplom in Empfang.

„In Mittelpunkt steht immer die Arbeit mit Menschen, ganz gleich ob ich als Bergführer oder als Psychologe arbeite“, sagt Trenkwalder. Als Bergführer hat er schnell gemerkt, dass Menschen in der Natur besser über sich selbst und ihre Gefühle reden können. Optimale Voraussetzungen für einen Psychologen. Die Berge sind ihm dabei Kulisse und Resonanzraum, in dem sich die Gespräche mit seinen Klienten entfalten können. Angebote, in denen Büroteams über Abenteuerausflüge zusammen gebracht werden sollen, sind seine Sache allerdings nicht. Zusammenhalt, Solidarität ist nicht etwas, was sich innerhalb von einem Tag erwerben lässt. Dass am Berg aber etwas geschieht, dass man sich im Unterwegssein in der Natur öffnet – das kann Trenkwalder immer wieder beobachten. Tatsächlich zeigen neurobiologische Erkenntnisse, dass schon eine Bergwanderung von drei Stunden eine positive Veränderungen der psychischen Gesundheit mit sich bringt, Angst und Energielosigkeit schwinden, mit Outdoor- oder Bergsport lässt sich eine Burnout-Erkrankung vorbeugen.

„Ich sage nicht, dass die Natur heilt, ich bin nicht esoterisch angehaucht. Aber meine Couch ist draußen, am Berg. Die Natur hilft, das Unterwegssein hilft. Der Blick kann schweifen, das wirkt entlastend“, so Trenkwalder.

In Vorgesprächen mit seinen Klienten, tastet er zunächst ab, „ob man persönlich miteinander überhaupt kann“ und wie genau der Arbeitsauftrag an ihn lautet. Manchmal ist nur das Bergführen gefragt, manchmal nur der Psychologe, mit dem man bergsteigt, und manchmal beides. Ist letzteres der Fall, schafft sich Trenkwalder ein passendes „Setting“, wie er es nennt – einen Rahmen, wo er beides unter einen Hut bringen kann: „Ich suche mir dann leichteres Gelände aus, wandere auch nur, bin auf leichten Teilstücken der Psychologe, auf ansprechenderen der Bergführer“. Trenkwalder macht ein psychologisch niederschwelliges Angebot, er ist kein Psychotherapeut, Klienten mit einem klinischen Bild wie Depression oder einer Abhängigkeitserkrankung empfiehlt er an Fachkräfte weiter. „Ich bin auf psychologische Coachings im Gebirge spezialisiert, wenn man so will“, sagt er und grinst. Zu seiner Klientel gehören demnach Menschen mit Beziehungsproblemen, Menschen, die Orientierung suchen oder vor schweren Entscheidungen stehen.

Trenkwalder kann auch selbst loslassen. „Mit ihm kann man auch einmal einen Topfen reden, richtig Spaß haben und blödeln“, sagt einer, der ihn gut kennt. Wer schon einmal eine Fortbildung oder ein Seminar von ihm besucht hat, weiß, dass er jedoch auch fordern kann, ja sein Gegenüber zuweilen auch herausfordert. „Am geschicktesten ist es, wenn man Menschen weder über- noch unterfordert“, sagt Trenkwalder. Für sich selbst scheint der Mann, der in sich ruht, jedenfalls eine gute Mischung gefunden zu haben.

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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Der Weg zu mir selbst

By Interview
Interview erschienen in …

Die Wege, die man geht, prägen auch das Gespräch

Als hätte sie jemand für uns ausgerollt, liegt die Wiese vor uns. Zwischen langen Halmen leuchten einzelne Blüten in Rot, Blau und Weiß. Ich muss mich setzen. Der Anblick tröstet, die Gräser im Wind klingen wie die Worte meiner Großmutter: Kind, so schlimm wird es schon nicht sein. Die Sonne bricht durch den Nebel, und wenige Meter weiter unten stehen die ersten krummen Lärchen, wir haben die Baumgrenze fast erreicht. Jetzt wird alles einfacher, denke ich, und dass ich nicht mehr frieren muss. „Eine versöhnliche Wiese“, sage ich, und Pauli Trenkwalder, mein Bergführer, lacht. Er steht, lässt mich sitzen. Auf geht’s, hätte er vielleicht gerufen, ginge er mit der Zielstrebigkeit eines Bergführers vor, aber Pauli Trenkwalder, den ich Pauli nenne, weil man sich am Berg duzt, ist auch Psychologe und Coach. Er weiß, der Wiesenmoment ist wichtig, weil er mich zuversichtlich stimmt. Wir sind seit drei Stunden unterwegs, haben fröhliche und schwere Momente überstanden, Wolken durchquert und Murmeltiere beobachtet. Wir haben geredet und geschwiegen, während wir auf dem Grat der Weißspitze gewandert sind, ein Berg wie ein Kalkdreieck mit einem Kreuz auf 2714 Metern. Erreicht haben wir es nicht. Ich bin nicht nach Südtirol gereist, um Gipfel zu erstürmen, sondern um herauszufinden: Was bewirkt ein Coaching am Berg? Wie lassen sich Probleme in der Natur lösen? Hilft mir die Bewegung zu verinnerlichen, was ich mit meinem Coach herausfinde? Ich habe auch Fragen aus meinem Alltag mitgebracht: Was hält mich ab, mein nächstes Buch zu beginnen? Aber auch: Wie kann ich besser auf mich aufpassen, für mich sorgen, mit mehr Ruhe gönnen in meinem vollen Leben?

 Als mich Pauli Trenkwalder morgens in meinem Hotel in Sterzing abholt, habe ich plötzlich Angst. Ist Wandern nicht eine private Angelegenheit, genau wie meine Sorgen? Warum liefere ich mich freiwillig diesem 43-jährigen Mann aus, der zwar einen freundlichen Eindruck macht – aber wer weiß schon, ,wie er sich auf dem Berg verhalten wird?

Wir rumpeln in seinem VW-Bus über Schlaglöcher, Pauli versteht meine Angst. Sagt, am Berg sei man halt aufeinander angewiesen. Ein spontaner Kontaktabbruch unmöglich. Man brauche eine Vertrauensbasis, deshalb führe er mit seinen Klienten ein Vorgespräch. Um Nähe zu schaffen. Themen zu sondieren. Er macht das seit mehr als 16 Jahren. Zu ihm kommen Menschen mit Job- oder Beziehungsproblemen, Erschöpfte oder solche, die vor einer schweren Entscheidung stehen oder eine private oder berufliche Kurskorrektur benötigen. Menschen, die ein richtungsweisendes Gespräch suchen. Mal plant Pauli eine Tagestour, mal eine mehrwöchige Kletterreise. Manche Menschen buchen ihn zehnmal im Jahr, andere nur dann, wenn sie akuten Bedarf haben. Meistens entscheidet er, wo es langgehen soll, so wie heute. ,,Wir starten auf 1900 Metern, ziemlich weit oben. Wir haben nur einen Tag und sollten keine Zeit mit einem langen Aufstieg verlieren“, sage Pauli. Er parkt.

Nebeneinander gehen wir einen breiten Waldweg entlang. Die Wege, sie sind wichtig. Sie prägen die Gesprächssituation. Da wir uns noch nicht kennen, brauchen wir ausreichend Platz, um nebeneinander zu gehen. Ich begreife, dass der Augenkontakt am Berg freiwilliger ist als in geschlossenen Räumen. Ob ich Pauli anschaue, während ich von mir erzähle, oder den Blick schweifen lasse, ist mir überlassen. Das befreit mich, manches kommt mir auf diese Weise leichter über die Lippen. Der Weg bestimme auch das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz. Manchmal ist er so schmal, dass man hintereinandergehen muss. Dann ist keine Unterhaltung möglich, und die Wanderer sind ihren Gedanken überlassen. Auch unser Weg ist schmaler geworden. „Ich lenke jedes Treffen“, wird Pauli später sagen. Er beobachtet genau, wie ich reagiere, ob ich zurückfalle, neben dem Weg gehe oder vorauseile. Dabei hört er genau zu. ,,Das habe ich gar nicht gefragt“, sagt er einmal, als er mich bei einem wortreichen Ausweichmanöver ertappt. Wir wandern den Westrücken des Berges hinauf durch Wolken, es ist steil und kalt geworden. Ich muss nichts entscheiden, deshalb bin ich nicht hier. Ich habe einiges entschieden, und Pauli fragt mich nun: Was genau? Was hält dich davon ab, dieses oder jenes zu tun? Die Kälte kriecht mir in die Glieder, mir gefällt nicht, was ich von mir erzähle. Ich hätte gerne meine Fassung wieder, die mir der Bergmensch mit seinen einfachen Fragen raubt.

Er macht das wie nebenbei, und in der dünnen Luft kommen mir meine Antworten ganz durchsichtig vor. Ich kann ihm auf 2500 Metern nichts vormachen, der Aufstieg kostet mich Konzentration, die Situation ist intim. Meine Stimme klingt brüchig, und das ist mir peinlich. Ich laufe voraus. Pauli folgt mir still. ,,Bise du müde? Dein Gang hat sich verändert“, stellt er schließlich fest und erzählt, dass sich der seelische Zustand im körperlichen ausdrücke. Einen Klienten habe er, der verändere den Schritt, sobald er ein bestimmtes Thema anspreche. Der schlurfe fast, so bedrücke ihn das. Wie erschöpft jemand ist, lasse sich auch am Blick ablesen: „Müde und depressive Menschen lassen ihn nicht mehr schweifen. Sie bleiben bei sich, selbst wenn Gamsböcke vorbeiziehen.“ Es tröpfelt, und Pauli kontrolliert die Wettervorhersage. Wir stehen vor einem Schild: „Weißspitze 50 Minuten“, steht darauf. Missmutig stelle ich fest, dass hier oben keine Bäume mehr wachsen und nur mehr Geröll liegt. Pauli fragt lächelnd: ,,Ist dir der Gipfel wichtig?“ Meine Stimmung scheint wie verwoben mit den tiefhängenden Wolken, und da teilen Pauli und ich Schokoladenkekse und Nüsschen. Das stabilisiert mich. Als Team entscheiden wir, zur Hühnerspielhütte abzusteigen. ,,Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?“, frage ich kurz darauf. Pauli schaut nur, und ich muss lachen. Was für eine Frage. Er ist in den Bergen aufgewachsen, in einem der Täler, die unter uns liegen. Schon sein Vater war Bergsteiger, auch Bergretter. Dass Berge gefährlich sind, hat Pauli früh verinnerlicht, und trotzdem hat er zusammen mit seinem Bruder „schwer geklettert“. Violett war der erste eigene Karabiner, den ihm sein Vater geschenkt hat, und groß der Wunsch, eines Tages damit Geld zu verdienen. Er studierte Psychologie in Innsbruck, machte die Bergführerausbildung, Berge und Menschen sind seine Lebensthemen. Am liebsten gehe er zu zweit los. Zu zweit bestehe die Möglichkeit, dass „etwas entstehe“, erklärt er, leichter als in einer Gruppe.

 Die Herausforderung sei es, die Menschen im Guten zu entlassen. Jemanden aufzuwühlen sei nicht so schwer, wie ihn aufzufangen. Pauli unterrichtet angehende Bergführer darin, wie sie am besten mit sperrigen Gästen umgehen. Was zu tun ist, wenn jemand in Panik ausbricht. ,,Panik ist einfach zu viel Angst“, sage Pauli ruhig, ,,und damit kann man lernen umzugehen.“ Er zeige den Menschen, die mit ihm aufsteigen, wozu sie in der Lage sind. Selbstwirksamkeit heißt das in der Psychologie. Sie sehen den Weg, den sie zurückgelegt haben, und erfahren, dass sie erreichen können, was sie sich vornehmen. Das sitzt ihnen buchstäblich in den Knochen, wenn sie in ihr Alltagsumfeld zurückkehren.

 Knödel aus Polenta und Gorgonzola, dazu Krautsalat – der Hühnerspielhütte essen wir frisch Zubereitetes, trinken selbst gemachte Holunderlimonade und blicken auf die Sterzinger Bergwelt. ,,Lass mich in Sterzing einfach am Bahnhof raus“, bitte ich Pauli, und er entgegnet lächelnd: ,,Sind wir denn schon unten?“ Sind wir nicht, vor uns liegen noch eine halbe Stunde Abstieg. Seine Frage holt mich zurück in die Gegenwart. Wir schweigen, und ich begreife, dass Stille zu einem Coaching am Berg dazugehört. Pauli Trenkwalder will mich nicht optimieren, sondern mir eine Begegnung ermöglichen. Was ich gelernt habe? Wird sich zeigen. Ob ich etwas in meinem Leben verändern werde? Vielleicht. Ziele habe ich nicht notiert, aufgestiegen bin ich trotzdem, und zwar ziemlich hoch. Stunden später stehe ich zwischen Grenzbeamten am Brenner und warte auf meinen Anschlusszug nach München. Er hat 40 Minuten Verspätung. Ich zähle die durchrauschenden Güterzüge. Es sind zwei. Die Anstrengung des Tages macht mich schwer, eine wohlige Erschöpfung. Ich muss an die Blumenwiese denken. Und daran, dass es keinen besseren Ort gibt, um sich selbst de Freundschaft anzubieten, als im weichen Gras unterhalb des Gipfels, kurz vor den ersten windschiefen Lärchen.

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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Bildet Klettern die Persönlichkeit?

By Interview
Interview erschienen in

Persönlichkeitsbildung und Klettern – oder die Rolle der Psyche beim Klettern.

Autoren:
Pauli Trenkwalder
Psychologe & Bergführer
Martin Schwiersch
Psychologe; Psychotherapeut & Bergführer

Sind wir mal ehrlich, wenn wir unseren kletternden Freunden zuschauen, da gibt es eine Vielzahl von Unterschieden, wie sie sich an einem Stück Fels versuchen. Der eine bewegt sich sehr kontrolliert, präzise, chamäleonähnlich langsam eine mehr oder weniger steile Wand nach oben und natürlich wurde vorher noch das Leibchen akkurat, ordentlich gefaltet und bedacht auf dem Stein neben den Rucksack gelegt. Wieder ein anderer kletternder Mensch hat ein unüberschaubares Chaos im Haulbag, am Standplatz und am Gurt sowieso, wo willkürlich unsortiert Friends, Expressschlingen und sonstiges Zeugs durch die Gegend baumelt. Da kann es doch auch so sein, dass das Klettern und wie es praktiziert wird Ausdruck der Persönlichkeit ist. Freilich alles kein Problem, denn jedem seine Neurose!

Trotzdem wollen wir mal hinschauen, ob es Persönlichkeitsfaktoren gibt, die wir mit Zahlen belegen können. 2004 waren wir Mitverfasser einer Studie der Sicherheitsforschung des DAV, bei der 278 Kletterinnen und Kletterer in der Halle beobachtet und befragt wurden. Unter anderem verwendeten wir einen psychometrischen Fragebogen, das Hamburger Persönlichkeitsinventar HPI. Damit kann man bei Menschen folgendes messen:

– emotionale Labilität bzw. Neurotizismus
– Extraversion bzw. Introversion
– Offenheit für neue Erfahrungen
– Kontrolliertheit, Normgebundenheit
– Altruismus
– Risikobereitschaft

Ziel war es zu prüfen, ob die Teilnehmer sich in ihren Persönlichkeitsmerkmalen und dabei vor allem in dem der Risikobereitschaft von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden. Die Antwort lautet: „A bisserl, ober nit wirklich“; sprich: ja zum Teil, aber nicht in relevanten Ausmaß. Kletterer sind weniger emotional labil, weniger erfahrungsoffen, weniger kontrolliert und normgebunden, sowie risikobereiter als die Normalbevölkerung – die Gemeinsamkeiten überwiegen die Unterschiede! Kletterer sind weder „gesünder“ noch die „besseren“ Menschen, sondern Menschen wie Du und ich!

Solche ähnlichen Untersuchungen gibt es beim Bergsteigen mehrfach. Unabhängig von den Ergebnissen haben sie sicherlich eines gemeinsam: Als Einpunktstudien können sie keine kausalen Einflüsse prüfen, ob Klettern oder Bergsteigen einen Zusammenhang mit persönlichkeitsbildenden Faktoren hat. Dieses methodische Problem soll uns nicht beunruhigen, da wir ja eh glauben, zu wissen, dass Klettern einen Einfluss auf unsere Person und Psyche hat. Wenn ein Mensch von einer Sache begeistert ist, dann kann er gar nicht umhin, davon auszugehen, dass diese Sache eine „Gute“ ist. Ein leidenschaftlicher Kletterer wird dem zustimmen, alleine schon deshalb, da er ja einen Teil seines Lebens dem Klettern widmet und es damit einen Teil seiner Identität ausmacht!

Das Klettern hat mein Leben bereichert wie keine andere Erfahrung. Klettern und Alpinismus sind eine wunderbare Schule für’s Leben, ein Weg mit Herz und Seele. (Heinz Mariacher; www.heinzmariacher.com )

 

Klettern stiftet Identität.

Ein junger Mensch hat noch keine klare Vorstellung davon, wer er ist, was er kann und was er will. Und damit befindet er sich in einer grundlegenden Unsicherheit und Instabilität. Wenn ein Mensch von sich sagen kann: „Ich bin ein guter Kletterer, ich bin schon 7a geklettert, in Arco kenne ich mich ganz gut aus. Weiß, dass es das beste Eis beim Marco gibt und eigenständig in der Seilschaft gehen kann ich auch“ – dann hat er zumindest zu einer minimalen Sicherheit gefunden: Identität gibt Halt. Alle Eigentätigkeiten, die Kompetenzerwerb beinhalten, über einen längeren Zeitraum ausgeübt werden und in einem sozialen Kontext ausgeübt werden, stiften Identität. Der Beziehungskontext ist wichtig, denn der Kletterer / die Kletterin muss sich zeigen und jemand muss ihn oder sie als Kletterer/in wahrnehmen und wertschätzen. Anerkennung auf der einen und Stolz auf der anderen Seite stiften Identität.

Auch Ron Kauk war einmal ein junger Mensch, der auf seiner „Suche“ im Yosemite landete und die Wirkung des Kletterns auf ihn selbst so beschreibt:

„I came here as a sophomore in high school and never went back home. This place, Yosemite, was my education. If You let it, it can imprint a value system on You. Passing a bottle of water to Your partner a thousand feet off the ground, You make sure he‘s got a good grip on it.”(National Geographic, Mai 2011, S. 115-116).

Wir lernen also beim Klettern – neben anderem – für andere Sorge zu tragen, eine Personfähigkeit, die man eindeutig als positiv einstufen wird.

 

Charakterbildung – Persönlichkeitsbildung.

Wenn man in die Runde fragt, wodurch Klettern zur Persönlichkeitsbildung beitragen könne, erhält man in der Regel Antworten wie: Man muss beim Klettern lernen, Risiken zu managen, man hat Verantwortung für sich und andere, muss seine Ängste überwinden, Leistung bringen, sich mit den eigenen Grenzen auseinandersetzen.

Auch Michael de Rachewiltz, ein junger Philosoph, der selbst kleine Griffe halten kann, glaubt, das beim Klettern Charaktereigenschaften gebildet werden (wie er bei einer Wanderung erzählt).

„Ob diese dann in der jeweiligen Gesellschaft gerade gefragt sind, bzw. als „gute“ oder „schlechte“ Charaktereigenschaften oder als universale Charaktereigenschaften gesehen werden, ist eine andere Frage.“

Unabhängig von der Frage, inwieweit Charakter überhaupt gebildet werden kann, betonen die Philosophen (Climbing – Philosophy for everyone; Stephen E. Schmid et al.), dass, wenn er gebildet werden kann, dann nur durch Praxis und „Gewöhnung“: Man wird nicht mutig, indem man über Mut in Büchern lernt, sondern indem man „mutige“ Taten vollbringt und damit „Mutig sein können“ ein Teil von einem selbst wird. Dies betont auch die Wagnisforschung, denn Sicherheitsstandards werden nur durch das Eingehen von Wagnissen entwickelt (Cube, F. 1995). Es geht um die richtige Mitte, die Balance zwischen den Extremen: ein 5a Kletterer der sich free solo an eine 8a wagt, ist nicht mutig sondern handelt töricht. Umgekehrt ist ein 8a Kletterer nicht mutig, weil er eine 5a free solo begeht – während dies für den geübten 5a Kletterer sehr wohl der Fall wäre. Die Autoren von Climbing – Philosophy for everyone gehen sogar so weit, zu fordern: „Charakterbildung gehört sicherlich zu den Gründen, warum Menschen klettern SOLLTEN“.

„Die Auseinandersetzung mit der Wand ist im Grunde genommen eine Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den eigenen Grenzen, Zweifeln und Ängsten auf der einen Seite, und mit den eigenen Tugenden, wie Mut, Entschlossenheit und unbeugsamer Absicht auf der anderen. Sieger über die eigenen Schwächen zu sein ist das Erstrebenswerteste, das man sich vorstellen kann.“ (Heinz Mariacher; www.heinzmariacher.com)

Natürlich ist Persönlichkeitsbildung nun so ein Schlagwort! Das aus unserer Sicht bessere Konzept wäre „Selbstwirksamkeitsförderung“. Denn die Persönlichkeit im Sinne des Charakters wird durch das Klettern nicht wirklich geprägt, vielmehr prägt der Charakter umgekehrt das, was jemand aus dem Klettern herauszieht und wie er es praktiziert. Und über die Jahre interagieren dann Klettererfahrung und allgemeine Erfahrungen so, dass dann ein Lebenskletterer wie z. B. der oben zitierte Heinz Mariacher rauskommt. Aber der wäre, wäre er nicht in Innsbruck, sondern in Hawaii aufgewachsen, wahrscheinlich Surfer geworden und würde heute die Identitätsbildung durch Surfen beschreiben, statt Klettern.

Die Überzeugung: „Ich bin in der Lage, mir wichtige Dinge durch mein Eigenhandeln auch gegen Widerstände zu erreichen“ wird Selbstwirksamkeitsüberzeugung genannt. Ein Mensch muss die Erfahrung machen, dass eigene Handlungen zu gewünschten Ergebnissen führen. Selbstwirksamkeit wird ausschließlich in konkreten Situationen und mit konkreten Menschen gewonnen. Sie gilt als wichtige Facette psychischer Gesundheit.

Diese Selbstwirksamkeit erleben Kletterer (Innen), wenn sie in die Berge, an den Fels und in die Wildnis ziehen, um dort ihrer Leidenschaft nach zu gehen. Das Kreieren künstlicher Herausforderungen, wie eine Dolomitenwand frei zu klettern, ist nur deshalb möglich, weil man sich in bestimmten Gruppen auf bestimmte Regeln geeinigt hat und unterschiedliche Kletterspiele erfordern unterschiedliche Charaktereigenschaften. Doug Robinson nennt das Phänomen, dass wir versuchen Ziele schwieriger zu machen, indem wir Technologie reduzieren „technologische Inversion“. Laut ihm sind Mut, Bescheidenheit und Ehrfurcht vor der Natur die hauptsächlichen Charaktereigenschaften die Klettern bildet bzw. stärkt.

 

Verkörperung – Embodiment

Eine typische Erfahrung beim Klettern ist das Festhalten als Voraussetzung für das Hochkommen. Für‘s Weiterkommen muss man loslassen; und zwar den Griff den man hält! Dabei wird die Gefahr des Absturzes als ständiger Zug der Schwerkraft erlebt.

 Die meisten von uns haben sich schon mal, kurz vor dem Einstieg einer Route, die Griffabfolge der Schlüsselstelle, vielleicht auch der ganzen Tour vorgestellt. Arme, Hände und Finger so bewegt und gleichzeitig mental vorgestellt, die Bewegungen korrekt auszuführen. Einerseits ist dies ein innerer Fahrplan, um Bewegungsabläufe durchzuführen, andererseits kann man einen Einfluss des Körpers bzw. von Bewegungen auf die Wahrnehmungen annehmen. So konnten Repp und Knoblich (2007) zeigen, dass die Wahrnehmung von mehrdeutigen Tonfolgen besser gelingt, wenn der Zuhörer seine Finger bewegt; d. h. er simuliert Tasten zu drücken, die eine auf- bzw. absteigende Tonfolge ergeben würde. Beim Klettern sind es keine Tasten, sondern Griffe und Tritte, die wir mit unterschiedlichem Druck und aus unterschiedlichen Winkeln belasten.

Eine Reihe von Studien konnte zeigen, dass die Wahrnehmung stark durch die eigene physiologischen Voraussetzungen beeinflusst wird. So wird z. B. das Gefälle eines Berges steiler eingeschätzt, wenn Versuchspersonen einen schweren Rucksack tragen, als wenn sie keine zusätzliche Last am Rücken mitführen (Proffitt, 2006). Auch die Wahrnehmung der Höhe einer Stufe („Wie hoch muss ich steigen?“) oder der Breite eine Tür („Passe ich durch die Tür?“) hängt von der Wahrnehmung des eigenen Körpers und damit den eigenen physiologischen Voraussetzungen ab (Warren, 1984; Warren & Whang, 1987).

Die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche beschreibt die Klinische Psychologie mit dem Begriff Embodiment. Einerseits drücken sich psychische Zustände im Körper aus, andererseits können Körperzustände psychische Zustände beeinflussen; d. h. eine bestimmte Körperhaltung wirkt sich auf Kognition und Emotion aus. Wer kennt nicht die Rechtfertigungen, Ausreden und

Erklärungen, wieso man die Tour oder Kletterstelle heute wieder mal nicht geschafft hat! Dann

stand man unten am Einstieg, wahrscheinlich war man eingeknickt; die Schulter und Kopf nach unten hängend usw. Dieses, wohl allen bekannte Erlebnis beschreibt Charly Brown am reflektiertesten:

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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Berge machen im Kopf frei!

By Interview
Interview erschienen in Kronen Zeitung, 12/20219

Berge machen im Kopf frei!

Wer Probleme hat, der findet in den Bergen leichter eine Lösung, ist der Südtiroler Pauli Trenkwalder überzeugt: „Denn Berge tun nicht nur der Seele gut, sondern sorgen beim Bergsport auch für kreative Phasen.“

In den Bergen kann man gut entspannen und über Dinge nachdenken, ist Pauli Trenkwalder
überzeugt. Und der Südtiroler muss es wissen, sind Berge doch sein Arbeitsplatz. Der 44-Jährige ist Bergführer und gleichzeitig auch ein erfahrener Psychologe. Was passiert denn am Berg eigentlich?
„Der Mensch fährt sein System herunter“, ist Pauli überzeugt: „Der Glücksforscher Czikszentmihalyi nennt es Floweffekt, es stellt sich ein Glücksgefühl ein, wenn man eine Extremsituation überstanden hat. Der Neurobiologe Arne Dietrich sagt, es gibt in uns ein implizites und ein explizites Hirnkastl. Beim Bergsport fährt das explizite System jedoch herunter und der Autopilot übernimmt. Ich muss also nicht mehr darüber nachdenken, wie ich einen Fuß vor den anderen setze. Diese Bewegung ist dann automatisiert, deshalb kann ich mich voll und ganz auf andere Sachen konzentrieren.“ Pauli bietet seinen Kunden damit viel mehr als ein unvergessliches Bergerlebnis. „Zu mir kommen Menschen, die ein Anliegen oder ein Problem haben und dabei Unterstützung oder Hilfe benötigen.“ Menschen, die in einem anderen Beruf noch einmal neu durchstarten, Führungskräfte, die sich weiterentwickeln wollen, oder Leute, die Schwierigkeiten in ihrer Liebesbeziehung haben. „Diese Menschen sind nicht psychisch krank, brauchen auch keine Therapie, sondern wollen einfach gewisse Themen mit einer externen Person besprechen. Also einfach über Sachen reden, über die man mit der Familie, Freunden oder Bekannten nicht sprechen will oder kann.“ Bei den Bergtouren mit seinen Kunden arbeitet Pauli mit klassischen Instrumenten der Psychologie, wie Gesprächsführung, Fragestellung; und der Berg und die Natur bieten das einzigartige Setting dafür. „Der Berg selbst therapiert ja nicht!“, schmunzelt Pauli: „Aber die Umgebung hilft, weil man seinen Blick schweifen lassen kann, wenn man mehrere Stunden lang gemeinsam unterwegs ist. In einem Raum, in einer Praxis ist der Blick gebunden, man kann maximal von einer Wand zur anderen blicken. Am Berg ist der Blick hingegen frei, man spürt Wärme oder Kälte, den Luftzug, man sieht Farben und plötzlich versinkt man in seinen Gedanken, in den Themen und das bringt viel schneller gesuchte Lösungen hervor.“ Nicht umsonst zieht es immer mehr Menschen unbewusst hinaus in die Natur, in die Bergwelt. „Und wenn sie dann zurückkommen, sagen diese Leute, das hat mir gut getan“, so der Psychologe: „In der Natur passiert einfach etwas in uns, was eben gut für uns ist.“

Hannes Wallner
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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Berge als Anti-Depressivum?

By Interview
Interview erschienen in …

Berge als Anti-Depressivum?

Welche Rolle spielen Berg- und Outdoorsport für die Gesundheit und bei psychischen Erkrankungen? Ein Ausblick auf Prophylaxe und Therapie >> Franziska Horn

Wir haben es geahnt: Bergsport ist gesund. Doch was heißt das wirklich? Wie wirken Wandern und Klettern auf Körper und Geist? Und: Hilft Outdoorsport auch bei psychischen Erkrankungen? Auf dem Fachsymposium „Bergsport & Gesundheit“ präsentierte der Österreichische Alpenverein im November 2016 Ergebnisse seines dreijährigen Arbeitsschwerpunkts in Kooperation mit Wissenschaftlern der beteiligten Disziplinen.

Psychische Erkrankungen nehmen zu

In seinem Vortrag “Bergwandern und psychische Erkrankung: ein Therapieansatz?“ verweist Reinhold Fartacek, Facharzt für Psychiatrie und Neuro­logie, auf den derzeitigen Ist-Stand der Gesell­schaft.  Für Fartacek bildet die bestehende Leis­tungsgesellschaft – mit hohen Ansprüchen an sich und andere, quer durch alle Lebensbereiche – den Rahmen oder sogar Nährboden für eine mög­liche psychische Überlastung. Damit steigt die Gefahr, psychisch zu erkranken, z. B. am Burnout- Syndrom oder an Depressionen. Laut Messungen der World Health Organisation (WHO) sind unipolare Depressionen zwischen 2008 und 2011 im Vergleich zu anderen körperlichen Erkrankungen überproportional angestiegen. Tatsache ist: Fast jeder wird einmal im Leben mit einer psychischen Krankheit konfrontiert, sei es in Form einer Essstörung, Sucht, eines Burnout-Syndroms oder ei­ner Lebenskrise. Depressionen gelten dabei als Volkskrankheit, unter der 4 Millionen Deutsche leiden. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums sind schätzungsweise 350 Millionen Menschen weltweit von Depression betroffen. Laut Sozialversicherungsstudie werden jährlich 11 Prozent der Österreicher (900.000) wegen psychischen Erkrankungen behandelt, dabei sind die Ausfälle wegen Burnout oder Überlastungsdepression am höchsten. Laut Suicide data der WHO aus dem Jahr 2015 sterben jedes Jahr bis zu 800.000 Menschen durch Selbstmord, die Zahl versuchter Suizide vermutet man weitaus höher.

Wie wirkt Bergsport?

Um die Wirkung von Outdoorsport zu überprüfen, untersuchte Fartacek im Rahmen seiner Tätigkeit als Ärztlicher Direktor des Uniklinikums Salzburg die Auswirkungen des Wanderns auf eine Gruppe suizidgefährdeter Patienten. Im Rahmen einer klinischen Wanderstudie unternahmen diese während einer neunwöchigen Interventionsphase wöchentlich drei Wanderungen von je zwei Stunden Dauer mit 300 bis 500 Höhenmetern. Im Fokus der Studie stand dabei das Ausdauertraining bei einfacher Aktivität und mit gut steuerbarer Intensität, Überforderung galt es zu vermeiden. Als Mehrwert kommt hier zur Aktivität noch die Naturerfahrung, die man allein oder in der sozia­len Gruppe erlebt. Das Resultat zeigte – bei weiterhin andauernder Unterstützung durch Phar­makotherapie und Psychotherapie – signifikante Verbesserungen: Das Wandern steigerte das Selbstwertgefühl ebenso wie den Faktor „erlebte Freude“ und reduzierte dabei den Grad der De­pression sowie der Ängstlichkeit bedeutend. Far­tacek stellte dabei neurobiologische Effekte fest: eine Verbesserung von Hirndurchblutung und Glukosestoffwechsel, eine Verbesserung der neu­ronalen Plastizität durch strukturelle Veränderun­gen in den Hirnarealen und eine vermehrte Aus­schüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Do­pamin. Bergsport wirke damit ebenso effektiv wie ein Antidepressivum, merkt der Mediziner an, weise dabei aber geringere Rückfallquoten auf als Antidepressiva. Daher empfiehlt er Outdoorsport besonders, auch um dem Risiko einer Burnout-Er­krankung vorzubeugen. Die Wirkung von Berg­sport sei sogar „gleich effektiv wie eine kognitive Verhaltenstherapie bzw. eine psychotherapeuti­sche Intervention“ und wirke stimmungsaufhel­lend bei Depression. Sein Fazit? Ist eine klare Emp­fehlung, die bestehenden Angebote alpiner Verei­ne zu nutzen.

Ab ins Grüne!

Zu vergleichbaren Forschungsergebnissen kommt die Untersuchung eines Teams von Salzburger und Innsbrucker Medizinern, welche ebenfalls auf dem Fachsymposium präsentiert wurde. Dafür befragten die Wissenschaftler 1536 Bergsportler und führten eine Feldstudie mit 47 Personen durch. Im Fokus: das Leben von Menschen in der Großstadt, bei zunehmendem Stress durch „Crowding“, die unter passiver Freizeitgestaltung, negativen Essgewohnheiten und Bewegungsar­mut leiden. Dazu kommt noch das Phänomen ei­ner zunehmenden Entfremdung von der Natur, im Fachjargon „Natur-Defizit-Syndrom“ genannt. Während der Steinzeitmensch noch 30 bis 40 Kilo­meter pro Tag zurücklegte, sind es beim „Büro­menschen“ nur noch 400 bis 1600 Meter. Das Team untersuchte die Beziehung zwischen psy­chischer Gesundheit und körperlicher Aktivität in drei Szenarien: beim Bergwandern, auf dem Lauf­band oder bei sitzender Tätigkeit. Was zu erwar­ten war: Aktivität beeinflusst das Gesundheitsver­halten. Darüber hinaus erbrachte die Studie ein signifikantes Ergebnis: Schon eine einzelne Berg­wanderung von drei Stunden bringt positive Ver­änderungen der psychischen Gesundheit mit sich. Insgesamt gesehen steigt beim Bergwandern die Stimmung am meisten an, auch die Gelassenheit nimmt zu, Angst und Energielosigkeit schwinden. Die Probanden vom Laufband zeigten eine in al­len vier Punkten schwächere Ausprägung, ebenso jene Kandidaten der Kontrollsituation bei sitzen­der Tätigkeit. Bedeutet: Bergwandern bringt posi­tive unmittelbare Veränderung der psychischen Gesundheit, wobei „outdoor“ deutlich bessere Ef­fekte erzielt werden als „indoor“. Gerade bei de­pressiven Menschen wurden verstärkte stim­mungsrelevante Bewegungseffekte in der grünen Natur festgestellt, die Stress reduzieren und auch langfristig vorbeugend gegen Depressionen wir­ken. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen US-amerikanische Wissenschaftler um G. N. Bratman im „PNAS Journal“ vom Juli 2015. Danach kann schon regelmäßiges Spazierengehen von 90 Mi­nuten durch die Natur die Gefahr psychischer Er­krankungen drastisch senken. Ein Effekt, der sich interessanterweise nach 90-minütigem Gehen in der Stadt nicht einstellt.

Was ist eine Depression?

Die Frage „Was ist Gesundheit?“ beantwortete das Fachsymposium mit Abwesenheit von Krankheit. Regelmäßige körperliche Bewegung hilft beim Stressbewältigen, beim „Krafttanken“ und als präventive Maßnahme zur Erhaltung der Gesundheit – psychisch wie physisch. Dass gerade „sanftes“ Bergsteigen solch positive Effekte bewirkt, führt dazu, dass Wandern in der Prävention und Rehabi­litation und Klettern in der Physiotherapie heute sogar „verschrieben“ werden (Quelle: DAV). Doch was ist das eigentlich, eine Depression? Als Messin­strument dient hier das Beck-Depressions-Inventar (BDI) mit eigenen Fragebögen wie der Beck Skala für Hoffnungslosigkeit (BHS) oder der Beck Skala für Suizidgedanken (BSS). Typisch für Erkrankte ist ein chronisches Stimmungstief und andauernder Pessimismus, Schlafstörungen, Grübeln und schwer zu durchbrechende Gedankenkreise, Mut­losigkeit, Trauer, Hoffnungs- und Antriebslosigkeit und Angst. „Die Ursachen für Depressionen sind vielfältig. Grundsätzlich trägt jeder Mensch das Ri­siko in sich, depressiv zu werden. Doch ob jemand erkrankt oder nicht, hängt von verschiedenen Einflüssen ab: Zum Beispiel von einer erblichen Veranlagung, körperlichen Faktoren oder auch vom persönlichen Lebensumfeld“ (Quelle: daserste).

Auch Profis sind betroffen

Dass auch Bergprofis nicht vor psychischen Er­krankungen gefeit sind, weiß Extremkletterer Alex Huber. Er ist Unterstützer des Krisendienstes Psychiatrie am kbo-Isar-Amper-Klinikum Atriumhaus in München. Huber litt selbst an einer Angststö­rung und befreite sich mithilfe einer Therapie. 2009 übernahm er als Schirmherr der Angst-Hil­fe e. V. ein Pilotprojekt des Klinikums rechts der Isar. Dabei sollten kranke Menschen durch Hallen- Klettern die aufreibenden Langzeittherapien bes­ser durchstehen. „Fast die Hälfte der psychisch Er­krankten brechen eine Langzeittherapie ab“, stell­te Facharzt Werner Kissling vom Klinikum rechts der Isar fest. „Unser begleitendes Programm soll Spaß machen, denn Freude wirkt: Die Rückfallrate der […] depressiven Patienten konnten wir bei den ersten 200 Patienten um 70 Prozent senken.“ Damit ließen sich viele teure stationäre Klinikauf­enthalte sparen.

Bouldertherapie gegen Depressionen

„Gerade Klettern und Bouldern hilft, abzuschalten und das Gedankenkreisen zu stoppen“, hat Katha­rina Luttenberger beobachtet. An sich selbst – wie an ihren Probanden. Die Diplom-Psychologin ar­beitet in der Forschung am Uni-Klinikum Erlangen und untersuchte in einer eineinhalbjährigen Stu­die (www.studiekus.de) den Zusammenhang zwi­schen Klettern und Stimmung. Die Besonderheit: Während Ausdauersportarten wie Joggen oder Wandern eher auf gleichförmigen Bewegungen und sich wiederholenden motorischen Prozessen beruhen und auch im Standby-Modus oder „auf Autopilot“ funktionieren, erfordert das Klettern volle Konzentration und problemlösendes Den­ken in einem „kurzgriffigen“ Sicht- und Umfeld. Es zwingt den Akteur ins Handeln und in den Mo­ment und erlaubt kein gedankliches Abschweifen. Mit ihren Kollegen Schopper und Först verglich Luttenberger parallel zwei Gruppen, eine aktive Bouldertherapiegruppe und eine passive Warte­gruppe, die zuerst die vorhandenen Angebote des Gesundheitssystems nutzen durfte, aber nicht boulderte. „Bei der aktiven Bouldergruppe ver­besserte sich die Symptomatik danach um einen Schweregrad der Depression, gemessen am BDI“, sagt Luttenberger, die persönlich wegen des Na­turfaktors lieber am Fels als in der Halle klettert. „In der achtwöchigen Studie dürfen sich die Teilnehmer an leichten, machbaren Routen aus­probieren, es geht ganz klar aber nicht um Leis­tung. Teilgenommen haben ganz unterschiedli­che Leute bis zu einem Body-Mass-Index (BMI) bis 35. Zusätzliche positive Effekte: Beim Bouldern macht man auch aufgrund kurzer Routen schnel­le Fortschritte und es gibt einen Alltagstransfer. Derzeit ist die Studie die einzige randomisiert kontrollierte Studie zum Bouldern bei Depression, man weiß aber, dass Bewegung allgemein bei Depression hilfreich ist“, sagt Luttenberger. Wichtig war der Forscherin vor allem, dass sich die Teilneh­mer dabei „nicht über Leistung oder Schwierig­keitsgrad der Route definieren, da eben jener Leis­tungsgedanke ein auslösendes Moment für eine Depression sein kann“. Sie erklärt: „Es gibt bei manchen diese Denke: Schaffe ich es, bin ich ok. Schaffe ich es nicht, habe ich versagt. Doch das ist in Summe ein Depressionsmuster“. Ist die heutige Leistungsgesellschaft also ein Nährboden für De­pressionen, platt gefragt? Luttenberger sagt: „So einfach ist es nicht. Ein überhöhtes Leistungsden­ken kann mit auslösend für Depressionen sein, aber nicht allein. Es gilt, immer auch die persönliche Disposition und den Lebenslauf mit zu betrachten“. Um die Ergebnisse ihrer Studie auszu­differenzieren, führt sie aktuell eine Folgestudie durch, bei der sie die Teilnehmer in drei Gruppen aufteilt: eine Bouldergruppe mit Psychotherapie, eine Bouldergruppe ohne Psychotherapie und eine Gruppe mit aktivierendem Bewegungspro­gramm. Interessenten können sich auf der Studi­enhomepage informieren:www.kusstudie.de

„Selbstwirksamkeit ist eine wichtige Facette psychischer Gesundheit“

Der Südtiroler Pauli Trenkwalder ist Bergführer, Psychologe und Ausbilder beim DAV. Mit seinem Kollegen Jan Mersch bietet er Coachings unterwegs am Berg an. Franziska Horn hat mit ihm über den psychischen Benefit und das Suchtpotenzial des Bergsteigens gesprochen.

FH » Als Coach verbindest Du die Psychologie mit dem Bergsteigen. Dein Werdegang?
PT » Ich stamme aus Sterzing, Jahrgang 1975, bin in den Bergen groß geworden und war in der Familie und im Freundeskreis von Bergsteigern umgeben. Irgendwann wollte ich Bergführer werden und mit Menschen arbeiten. Während der Bergführer-Ausbildung hab ich begonnen, Psychologie in Innsbruck zu studieren. Zu meinen Schwer­punkten gehörten Notfallpsychologie, mentales Training und Sozialpsychologie. Martin Schwiersch, ebenfalls Psy­chologe und Bergsteiger, holte mich als Diplomand zu einer Forschungsgruppe der Sicherheitsforschung des DAV. Bei den verhaltenspsychologischen Untersuchungen lag der Fokus auf dem Menschen und Gruppen und wie sie am Berg Entscheidungen treffen. Hier traf ich auf Jan Mersch. Er ist heute mein Partner von „Mensch und Berge“.

FH » Wie bist Du auf die Idee gekommen, am Berg zu coa­chen?
PT » Die Idee ist zusammen mit Jan Mersch entstanden, da wir gemeinsame Seminare gaben und die Supervision des jeweils anderen übernahmen. Wir haben hier eine Nische ge­sehen und eine Nachfrage gedeckt. Es macht heute ein Drit­tel unserer Arbeit aus, neben der Arbeit im DAV-Lehrteam und dem klassischen Führen. Schwerpunkt unseres Coa­chings ist die psychologische Beratung, nicht die Therapie.

FH » Wer nimmt euer Angebot wahr – eher Frauen, vermut­lich?
PT » Nein, es sind Männer wie Frauen, die Unterstützung su­chen. Vom Alter her liegen die meisten zwischen 30 und gut 50 Jahren. Wie gesagt, wir arbeiten nicht therapeutisch, son­dern im Bereich der Prophylaxe, der Gesundheitsförderung und der psychologischen Beratung. Auch die Gründe, war­um die Menschen zu uns kommen, sind ganz unterschied­lich. Es kann um Fragen der Neuorientierung gehen, beruf­lich wie privat, um die Eigendiagnose Burnout, um Partner­schaft, Beruf und vor allem um Persönlichkeitsentwicklung.

 FH » Wie wirkt sich der gemeinsame Bergtag auf die Ge­sundheit des Menschen aus?
PT » Jeder, der in die Berge geht, kennt das: Wer nach ei­nem langen Tag beim Wandern, Bergsteigen oder Klettern müde zurückkommt, erlebt eine angenehme Zufriedenheit. Es tut einem einfach gut. Wer dann auch noch seine (Berg)- Ziele erreichen konnte, strahlt!

FH » Wie läuft ein solches Berg-Coaching mit dir ab?
PT » Ich bin Psychologe und Bergführer, eine wundervolle Kombination, um Menschen zu begleiten. Die Berge sind ein ergreifendes Ambiente, um sich geschützt zu öffnen und Veränderungen entgegenzugehen. Ich beginne mit ei­nem Erstgespräch, um sich kennen zu lernen, um Erwartun­gen und das Thema festzulegen. Und um festzustellen, ob man persönlich „miteinander kann“. Darauf folgen unter­wegs Gespräche, Methoden und vor allem aktives Zuhören. Zurück im Tal merkt man, dass man sich äußerlich und in­nerlich bewegt hat, weitergekommen ist. Zwar auf anstren­gende, aber gute Weise! Ich betrachte die Berge nicht als Methode meiner psychologischen Coachingarbeit, sondern ich bin Bergmensch und gehe mit meinen Klienten dort hin.

 FH » Wie würdest Du also den Coaching-Effekt beschrei­ben, in deinen Worten?
PT » Selbstwirksamkeit ist eine wichtige Facette psychi­scher Gesundheit und wird ausschließlich in konkreten Situ­ationen und mit konkreten Menschen gewonnen, d. h. ich bin in der Lage, die mir wichtigen Dinge durch mein Eigen­handeln auch gegen Widerstände zu erreichen. Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebens­belastungen bewältigen, produktiv arbeiten und etwas zur Gemeinschaft beitragen kann. Mir ist „Embodiment“ wichtig, sprich: Erfahrungen werden immer auf der kognitiven, auf der emotionalen und auf der körperlichen Ebene verankert und einander gekoppelt. Mit Blick auf die dramatische Prog­nose der WHO nehmen stressbedingte Erkrankungen mas­siv zu. Hierzu möchte ich den Neurobiologen Gerald Hüther zitieren: „Zu viele Menschen leiden an Stress, weil sie über zu geringe Kompetenzen zur Stressbewältigung verfügen.“

 FH » Wie stehst Du selbst – als hervorragender Kletterer – zur Suche oder Sucht nach Risiko?
PT » Als Psychologe finde ich die Bergsuchtdiskussion überbewertet! Wenn ich mal davon ausgehe, dass es sie gibt, muss ich feststellen, dass man mit einer solchen Sport­sucht niemand anderem schadet. Hingegen ist der Miss­brauch von Alkohol, Drogen usw. immer auch dadurch ge­kennzeichnet, dass das soziale Umfeld stark darunter leidet, und das ist wirklich ein großes Problem in unserer Gesell­schaft. Als Bergführer bin ich nicht auf der Suche nach Risi­ko. Hanspeter Eisendle hat eine treffende Beschreibung des Bergführerberufs: „Abenteuervermeider“. Natürlich geht es in der Bergführerei um das Erreichen von Zielen, um Erleb­nisse und das gemeinsame Unterwegssein. Dies alles ist ständig geprägt durch Entscheidungsfindung und Treffen von Entscheidungen unter Unsicherheit. Für mich eine Her­ausforderung und ein schöner Beruf; manchmal auch ge­fährlich. Und zuletzt muss ich für mich als Kletterer feststel­len, dass sich mein Risikoverhalten verändert und gewan­delt hat. Und zwar in dem Moment, als ich zum Familienva­ter wurde.

 FH » Aus der Biografie der Höhenbergsteigerin Edurne Pasaban wissen wir, dass sie die letzten neun von 14 Acht­tausendern bestiegen hat, um ihre schwere Depression zu überwinden und eine Aufgabe zu haben. Der Berg als eine Art Therapie? Kann das funktionieren?
PT » Berge therapieren nicht. Sie sind einfach nur da. Edur­ne Pasaban beschreibt, was ihr gut tut und was aus ihrer Sicht hilfreich war. Man muss sicherlich nicht auf Achttau­sender steigen, um eine schwere Depression zu überwin­den. Die Analogie „hoher Berg und depressive Erkrankung“ finde ich passend; beides ist erdrückend. Individuell ange­passte, professionelle Hilfe in Form von Psychotherapie bis hin zur medizinischen Unterstützung ist sinnvoll. Als Ge­sundheitspsychologe unterstütze ich Menschen, dass es nicht so weit kommt.

 FH » Ein Hörbeitrag des Bayerischen Rundfunks vom Mai 2016 hat den Aspekt „Suizid am Berg“ thematisiert und Zah­len genannt. Demnach liegt die Suizidrate unter Alpintoten bei überraschend hohen zehn Prozent.
PT » In jedem Jahr leidet in der Europäischen Region der WHO jeder 15. an einer schweren Depression. Nimmt man Angstzustände und sämtliche anderen Formen von Depres­sion hinzu, sind fast 4 von 15 Menschen betroffen. Weiters beträgt die jährliche Suizidrate in der Europäischen Region 13,9 pro 100.000 Einwohnern. So sind zum Beispiel in Südti­rol ein Suizid und drei versuchte Suizide pro Woche zu ver­zeichnen. Suizidprävention stellt für das Gesundheitswesen eine riesige Herausforderung dar. Der Fokus „Suizid am Berg“ ist somit ein sehr kleiner Teil des traurigen Problems.

 FH » Was meinst du: Wirken Berge als ein „Antidepressi­vum“?
PT » Auf einem Coaching in den winterlichen Bergen sagte mir eine Klientin: „Wenn ich draußen in den Bergen unter­wegs bin, dann geht mir einfach das Herz auf!“ Berge sind für meine Klienten positiv besetzt und genau das ist für mich hilfreich, wenn ich mit ihnen arbeite, um schwierige Themen in Angriff zu nehmen. Der Rahmen und Raum Ber­ge ermöglicht es meinen Klienten, die Augen schweifen zu lassen, man muss nicht ständig in direktem (Augen-)Kon­takt stehen, was ich als Erleichterung und Freiheit für meine Klienten empfinde. Wie schon erwähnt sind Berge für mich keine Methode, keine Therapeuten und auch kein Medika­ment, sondern Resonanzraum und ein wundervolles Ambi­ente für meine Arbeit. Auf die Frage, was für jeden Einzelnen wie wirkt, ist jeder frei, sich eine Antwort zu suchen.

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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Die Haltung am Berg

By Interview
Interview erschienen in Human Facts, 08/2025

Die Haltung am Berg

Im Gespräch:
Pauli Trenkwalder
Bergführer & Psychologe
Interview:
Peter Plattner

In seinem Arbeitsleben verbindet der Südtiroler Pauli Trenkwalder seine beiden Professionen und Leidenschaften: Bergführer und Psychologe. Dabei beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema Entscheidungsfindung – auch im alpinen Kontext und wie man diese in Ausbildungen schulen kann. Ihn dazu zu bewegen darüber einen Beitrag zu verfassen oder beim Alpinforum zu sprechen, ist schwierig: „Das sollen andere machen, die das besser können“. Stimmt nicht, aber versuchen sie gegen einen guten Psychologen zu argumentieren. So haben wir Pauli zu diesem Interview überredet und ihn gefragt, wie Menschen Entscheidungen treffen, mit Fehlern umgehen und was eine gute Führungshaltung ausmacht.

Neben dem persönlichen Wissen, Können und der Erfahrung wird z. B. bei der Entscheidungsfindung und Beurteilung der Lawinengefahr regelmäßig auf die Bedeutung von „human factors“ hingewiesen. Wie relevant sind diese Faktoren?

Ich bin froh, dass in den Ausbildungen schon früh erkannt wurde, dass diese „weichen“ Faktoren wichtig sind und diese auch mehr und mehr behandelt werden. Für eine gute Entscheidungsfindung braucht es beides: gutes Faktenwissen und Erfahrung sowie auch ein wenig psychologisches Hintergrundwissen, um einordnen zu können, wie ich selbst funktioniere, wie Menschen Entscheidungen treffen und wo es Fallen gibt. Das alleine reicht aber nicht aus, zusätzlich braucht man auch eine Unterstützung z. B. durch gute Ausbildung. Schließlich geht es darum zu lernen, wie man seine Entscheidungen und Ziele so gestalten und erreichen kann, dass sie individuell zu einem passen, dass sie z. B. der persönlichen Risikobereitschaft, respektive dem Sicherheitswunsch, entsprechen. Klarerweise müssen wir hier immer zwischen privatem Bergsteigen und geführten Touren unterscheiden.

Im geführten Kontext haben Entscheidungen, die zu drastischen Konsequenzen führen, keinen Platz.

Aber die Lawinengefahr bleibt die gleiche …

Ja, die Lawinengefahr ist die gleiche. Aber wenn ich für mich privat unterwegs bin, dann treffe ich meine Entscheidungen je nachdem, was ich mir zutraue und welches Risiko – auch ein höheres – ich eingehen möchte. Das kann und darf ich so entscheiden, auch wenn die Konsequenzen im Endeffekt ernster oder fatal sind. Im geführten Kontext haben solche drastischen Konsequenzen keinen Platz. Hier muss ich alles in die Waagschale werfen, um gute Entscheidungen im Sinne von „vorsichtig unterwegs sein“ zu treffen. Das Hauptaugenmerk wird dabei natürlich auf das primäre Ziel, den Gipfel oder die Abfahrt, gelegt. Daneben schwingt aber auch – zumindest für mich – ein wichtiges Nebenziel mit, nämlich wieder heil unten anzukommen, damit die Menschen auch von ihrem Erlebnis berichten können.

In der letzten Ausgabe von analyse:berg haben wir uns die Unfälle im Führungskontext näher angesehen. Dabei haben wir festgestellt, dass die meisten dieser Unfälle nicht im Kontext mit seiltechnischen Herausforderungen – Gehen am kurzen Seil, Mitreiß- oder Abseilunfälle, etc. – passieren, sondern dass Berg- und Skiführer vor allem Probleme mit der Beurteilung der Lawinengefahr haben. Danach haben wir oft gehört, dass dafür der Druck der Gruppe vermutlich mitverantwortlich ist. Wie siehst du das?

Allein das Wort „Gruppendruck“ ist in Bergsteigerkreisen sehr bekannt, weil das jeder gleich einmal in den Mund nimmt. Aus meiner Erfahrung kann ich aber sagen, dass vor allem im Führungskontext Gruppendruck komplett überbewertet wird. In meiner Wahrnehmung findet dieser nicht statt. Es kann durchaus sein, dass in mir selbst als Führungsperson ein Druck stattfindet, der lautet: „Ich bin ein guter Bergführer, eine gute Bergführerin, wenn ich das Ziel erreiche, also von A nach B komme.“ Weniger aber, dass die Gruppe auf mich als Führungsperson einen Druck ausübt. Wenn ich frech bin, dann sage ich sogar, das wird oft als Ausrede benutzt. Im privaten Kontext kann man allerdings schon beobachten, dass sogenannte „Risikoschub-Phänomene“ stattfinden, wodurch die ganze Gruppe risikoreicher unterwegs ist. Im geführten Kontext sollten die Rollen aber klar verteilt und der Führungsperson bewusst sein, dass kein Druck auf ihr lastet oder auf sie ausgeübt wird, sondern dass der empfundene Druck Entscheidungen zu treffen, mit den Unsicherheiten in ihr selbst zu tun hat.

Und es ist eben diese Frage ,Was hat das mit mir zu tun?‘ ,die mich als Psychologen interessiert.

Es gibt Unfälle, bei denen junge Berg- und Skiführer sehr exponiert und steil ins offensichtliche Lawinengelände gefahren sind. Mit oder ohne Druck stellt sich dabei die Frage der Notwendigkeit. Wie kannst du dir erklären, dass Personen mit hochwertigen, aufwändigen Ausbildungen sich in ein solches Gelände wagen oder glauben, sie müssten das tun, um ihre Kunden oder sich selber zufrieden zu stellen?

Die Antwort kann nur eine Spekulation sein und ich weiß nicht, ob man sich darauf einlassen soll. Meine Frage ist: Haben wir Bergführer und Bergführerinnen eigentlich Führungsprinzipien, die beinhalten, wie wir unsere Arbeit gestalten und wie wir im Gelände Entscheidungen treffen wollen? Statt „Führungsprinzipien“ könnte man auch „Führungshaltung“ sagen. Eine solche Haltung kann z. B. sein: „Ich bin ein guter Bergführer, wenn ich die steilste Rinne, bzw. den schönsten Berg oder die wildeste Tour führe.“ Wenn die Antwort auf die Frage, was eine gute Führung ist bzw. was einen guten Bergführer ausmacht, über die Schiene „wild, exponiert und gewagt“ läuft, so ist das nicht mein Ansatz. Ich sehe das nicht so.

Berufsgruppen, die in einem Risikoumfeld Verantwortung für andere Menschen übernehmen, haben sich eine solche Haltung, solche Prinzipien zu eigen gemacht und standardisiert. Sie werden so ausgebildet, dass sie nach einem bestimmten Mindset arbeiten und entscheiden. Implizierst du, dass es das bei Bergführern nicht gibt?

Ja, aber ich kann das nur aus meiner Perspektive und Wahrnehmung beurteilen. Von mir als Bergführer würde ich sagen, dass ich im Führungskontext oft sehr defensiv unterwegs bin. Es ist nicht  immer leicht, Entscheidungen zu treffen, die lauten: „Bis hier her und nicht weiter“ – und dann gehen 25 andere Leute weiter an dir vorbei. Dadurch kommt man leicht in ein Gefühl der Rechtfertigung und der Erklärung, obwohl die Kunden das meistens gar nicht brauchen. Es hat etwas mit einem selbst zu tun. Und es ist eben diese Frage „Was hat das mit mir zu tun?“, die mich als Psychologen interessiert. Beitragen zu können, dass diese Frage ein wichtiger Teilbereich in der Ausbildung ist, ist mir wichtig.

Und was erklärst du in einer solchen Situation deinen Kunden?

Tatsächlich hat es nicht nur mit Erklärung oder Erklärungsnot zu tun. Vielmehr geht es um die Haltung, wie ich meinen Führungsalltag lebe. Diese Haltung nehmen Menschen wahr. Das ist der Grund, warum manche Leute mit mir gehen und warum andere nicht mit mir gehen. Das ist eine Frage der Ausdifferenzierung. Mitteilen meint, transparent sein und seine Führungsprinzipien laut ansprechen. Ein Führungsprinzip kann z. B. – wie bereits erwähnt – sein, den Gipfel zu erreichen. Sollte sich aber das Wetter anders verhalten als die Prognose, sprich eine Front kommt früher als angekündigt, dann lautet mein Führungsprinzip: Nein, ich will mit meinen Gästen nicht im Whiteout und in der Kälte zum Gipfel gehen, auch nicht für eine Stunde. In einer solchen Situation kann ich zu dem Punkt kommen, wo ich durch ständiges Abchecken der Situation die Entscheidung treffe, dass wir den Gipfel nicht erreichen werden, dass wir umdrehen, dass wir dem Hintergrundziel „heil unten ankommen“ folgen. Für meine Kunden muss ich meine Entscheidung eben auch operationalisieren: Es reicht nicht zu sagen: „Wenn es kalt wird, drehen wir um.“ Sondern ich erläutere im Detail, dass ich oben am Grat die Kälte nicht einmal für eine Stunde gemeinsam mit ihnen aushalten möchte.

Es geht um die Haltung, wie ich meinen Führungsalltag lebe. Diese Haltung nehmen Menschen wahr.

Wie vermittelt man diese Haltung in der Ausbildung?

Haltung hat immer auch mit Verhaltensänderung zu tun und das ist ein langer Prozess. Der erste  Schritt ist das Vorleben. Ich kann als Ausbilder nur weitergeben, wie ich selber die Welt sehe. Haltung hat schließlich immer etwas mit Werten zu tun. Es hängt also davon ab, wie ich für mich meinen Wertekompass ausrichte, wie ich mein Führen sehe.

In den Ausbildungen ist ein Argument, verschiedene Ausbilder zu haben sei gut, um mehrere Führungsstile zu sehen. Andererseits berichten Kursteilnehmer, dass sie dadurch komplett unterschiedlichen Herangehensweisen, Mindsets und Risikowerte vermittelt bekommen.

Als Berufsgemeinschaft wollen wir uns zwischen den Leitplanken, die vorgeben, wie wir mit Unsicherheiten und Entscheidungen umgehen, bewegen.

Kann das dennoch ein Vorteil sein, oder sollte in einer Ausbildung zumindest die grundlegende Haltung dieselbe sein?

Diese Erfahrung des Erlebens unterschiedlicher Ausbilder habe ich auch bei meiner eigenen Ausbildung gemacht. Mehrwert und Vorteil ist, dass man unterschiedliche Persönlichkeiten sieht und deren Umgang in der unsicheren Umgebung. Davon kann man definitiv etwas für sich mitnehmen. Gleichzeitig muss die Ausbildung aber definieren, zwischen welchen Leitplanken sie sich bewegt. Es darf also unterschiedliche Individuen als Ausbilder geben, aber als Berufsgemeinschaft wollen wir uns zwischen den Leitplanken, die vorgeben, wie wir mit Unsicherheiten und Entscheidungen umgehen, bewegen. Ob das nun in den verschiedenen Ausbildungen aktuell genauso umgesetzt wird, kann ich nicht beurteilen. Wenn es aber solche Fälle von offenbar großer Risikobereitschaft bei den frisch Ausgebildeten gibt, dann sollte man dies als Möglichkeit sehen, nicht nur in Rechtfertigung zu gehen, sondern hinzusehen, wo man ansetzen könnte, wo man die Ausbildung verbessern könnte.

Du wirst von einigen Bergführerverbänden immer wieder angefragt, eben diese gemeinsame Haltung der Berufsgemeinschaft zu thematisieren, manchmal auch im Unfallkontext. Wie gut funktioniert das?

In der Schweizer Bergführerausbildung bin ich als externer Referent zum Thema Leadership, einem Indoormodul, bei dem es um psychologische Themen geht, dabei. Meine Wahrnehmung ist, dass dieses Thema den Schweizer Bergführern wirklich ein Herzensanliegen und ein Kernthema ist und mein Input sehr wertgeschätzt wird – sowohl von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen als auch vom Verband. Etwas anderes ist es natürlich, wie ein Ausbilder das dann draußen im Gelände vorlebt und damit umgeht. Das ist aber auch eine Herausforderung, denn er bewegt sich im Spannungsfeld einerseits das Thema zu fördern, aber es andererseits in die klassische Führungsarbeit einzubauen. Denn Fördern bedeutet hier, in einen Bereich hineinzugehen, in dem gerade eine Entwicklung stattfindet, d. h. man muss auch über die etablierte Komfortzone hinaus gehen, in der man sich als guter Führer ja zum Glück oft befindet.

Wie sieht dieser Input konkret aus?

Als eine Art roter Faden dient die Frage, was gute Führung ausmacht. Reale Fallbeispiele sind ein zentrales Element und werden sehr geschätzt. Teilweise vereinfachen wir diese ein wenig, damit sich jeder Teilnehmer, jede Teilnehmerin auch gut in die beschriebenen Situationen hineinversetzen kann. In Kleingruppen wird dann erarbeitet, wie man in diesen Situationen entscheiden würde. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um ein „Sich-Ausprobieren“ auf einer sicheren Bühne, um zu sehen, welche Konsequenzen zu erwarten sind. Im Prinzip geht es dabei um das Etablieren einer Fehlerkultur. Aus der Forschung weiß man, dass man aus den eigenen Fehlern nicht so viel lernt, sondern aus den Fehlern anderer am meisten herauszieht. Außerdem sprechen wir über Angst, über Panik, über Führungsprinzipien, über Entscheidungsfindungen usw. Auf jeden Fall ein spannendes zweitägiges Modul.

Ich nehme das genau umgekehrt wahr: Aus den Fehlern anderer zu lernen, ist für mich schwer. Ich lerne am meisten, wenn es für mich persönlich schmerzhaft ist oder ich emotional betroffen bin. Dem würdest du also widersprechen?

Nein, dem widerspreche nicht ich und ich möchte auch deine Wahrnehmung nicht anzweifeln, aber in der psychologischen Forschung ist man eben durch Untersuchungen zu dieser Ansicht gekommen. Warum lernt man aus eigenen Fehlern nicht so gut? Das hat vor allem damit zu tun, dass man seinen Selbstwert aufrecht erhalten möchte. Man wird also alles dafür tun, sein Selbstbild nicht zu beschädigen und die Sache schönzureden oder 

Warum man aus eigenen Fehlern nicht so gut lernt? Das hat vor allem damit zu tun, dass man seinen Selbstwert aufrecht erhalten möchte.

Um aus den eigenen Fehlern zu lernen, braucht man eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstreflexion.

zu rechtfertigen. Wenn es aber um Fehler geht, die von anderen gemacht worden sind und die Person selbst von diesen Fehlern berichtet und das darlegt, dann können Menschen das leichter annehmen. Ich muss mich nicht mit dem eigenen Selbstbild bewusst oder unbewusst beschäftigen. Um aus den eigenen Fehlern zu lernen, braucht man eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstreflexion und muss vielleicht auch in den Austausch mit anderen gehen.

Ich spiele darauf an, dass bei Vorträgen oder auch in den sozialen Medien viele Lawinenunfälle gezeigt werden. Man sieht gruselige Bilder, hat dazu aber wenig Kontext. Ich denke mir dabei oft: „Zum Glück ist das mir nicht passiert“. Reichen Bilder oder ein schauriges Gefühl schon aus, um etwas zu lernen?

Ich bin kein Medienexperte, aber für mich klingt das eher nach Ausrede. Das ist keine Auseinandersetzung mit dem wirklichen Drama, welches bei so einem Lawinenunfall passiert. Hier fehlen die Fakten, das komplette Hintergrundgeschehen, wie und warum was wozu geführt hat. Das würde ich also nicht als Lernen bezeichnen, sondern eher als Ausrede, dass ich mir das voyeuristisch ansehen darf.

In den letzten Jahren hat sich beim Thema „Lawine“ viel getan: angefangen von Munter und der Kommunikation der Lawinenprobleme bis hin zur einheitlichen Sprache der Lawinenwarndienste. Man bekommt viele Informationen sehr gut aufbereitet. Merkst du bei deinen Kursen, dass die Teilnehmer fachlich besser und kompetenter, vielleicht auch entspannter damit umgehen?

Was ich auf jeden Fall bemerke, ist, dass Leute, die sich für das Thema interessieren, heute deutlich besser vorbereitet sind und ein umfangreicheres Wissen haben als früher. Früher hatte der Bergführer das komplette Fachwissen, sogar „Geheimwissen“ inne, etwas, das man als normaler Skitourengeher gar nicht erlangen konnte. Heute besteht meine Aufgabe in der Ausbildung oft darin, jenes Wissen, welches sich die Teilnehmer selbst angeeignet haben, einzuordnen und abzuwägen, wo was hingehört. Es gilt herauszufinden, ob man Moderator oder Aufklärer ist oder derjenige, der strukturiert und noch einmal unterstützt, was welche Gewichtung bekommt. Menschen haben heute jedenfalls viele Möglichkeiten, sich gut zu informieren. Aus diesem Grund muss ich inzwischen aber auch selbst besser vorbereitet sein, muss meine Ausführungen und Argumente immer belegen können. Dabei lege ich außerdem viel Wert auf Transparenz. Die Leute wollen mitgenommen werden, sie wollen Dinge verstehen und warum soll ich Themen und Kontexte nicht so vereinfachen, dass sie sie besser verstehen oder einordnen können? Damit ist der nächste Schritt vorbereitet, nämlich, dass sie sich noch tiefer informieren wollen. Ich sehe also die Rolle von uns Bergführern und Bergführerinnen auch darin, Dinge einzuordnen und eine Orientierung zu geben. Dafür muss man aber natürlich selbst sehr gut ausgebildet und auf dem aktuellen Stand sein.

Ich kann mich selber informieren, ausbilden und eigenverantwortlich entscheiden oder die KI entscheiden lassen, von der ja manche – auch was die Lawinengefahr betrifft – glauben, dass sie „besser“ ist. Wie erklärst du dir das?

Ich glaube, dass es für viele Menschen einfach eine Erleichterung ist, wenn jemand anderer Entscheidungen für sie trifft – ob das eine KI oder sonst jemand ist.

Gibt es unter diesen beiden Gruppen eine gemeinsame Sprache, oder sind das zwei verschiedene Welten?

(Seufzt) Eine Pauschalantwort ist hier nicht möglich …   

… aber immer noch gibt es tapfere Kämpfer, die der Meinung sind, dass bei der Lawinenbeurteilung die probabilistischen Methoden besser als die analytischen oder intuitiven sind …

Meine Erfahrung ist, dass unsere Kunden mit viel weniger zufrieden und glücklich sind, als wir Führungspersonen oft glauben.

 … was genau einen Konflikt beschreibt. Das ist wie Pingpong spielen: Ich habe recht, du hast recht. Wenn ich den Fokus auf die Menschen lege, die draußen Entscheidungen treffen wollen, dann geht es nicht darum, ob du oder ich recht haben, sondern darum, dass man versucht herauszufinden, was vom aktuellen Stand der Wissenschaft bis hin zur Wahrscheinlichkeit – also von der Analytik bis hin zur Probabilistik – greifbar und überhaupt dienlich ist. Ich starte mit meinen Gästen schließlich auch nicht mit dem Hauptziel, unter keine Lawine zu kommen. Wir gehen auf Skitour, um gemeinsam ein schönes Erlebnis zu haben. Zu meiner Aufgabe gehört es, Entscheidungen in dieser unsicheren Welt der Lawinengefahr zu treffen, aber Menschen gehen nicht primär auf Skitour, um Lawinen auszustellen.

Manchmal hat man aber dieses Gefühl und man muss sich fast schämen, wenn die Lawinengefahr nicht das permanente Hauptthema ist. Woher kommt das?

Es gehört durchaus zu meiner Arbeit als Bergführer, dass das Thema „Lawine“ im Hintergrund ständig mitläuft. Das ist schließlich Teil meines Kompetenzbereichs, ich darf das nicht ausblenden. Aber das ist nicht der Fokus, mit dem ich auf Skitour gehe – schon gar nicht, wenn ich privat unterwegs bin. Der Fokus ist, dass meine Kunden eine schöne und gute Zeit erleben! Und das bedeutet nicht, dass es eine ultimativ mega riesige Tour ist. Meine Erfahrung ist, dass unsere Kunden mit viel weniger zufrieden und glücklich sind, als wir Führungspersonen oft glauben.

Die Zahl der Lawinentoten war immer schon gering und sinkt weiter, tödliche Skitourenunfälle aufgrund von Herz-Kreislauf-Problemen nehmen zu und regelmäßig sterben Skitourengeher durch Stürze und Abstürze. Dennoch ist für die Skitourencommunity selbst und für die Medien der Lawinenunfall unangefochten das mit Abstand prominenteste Thema und Problem. Man leistet sich die ganze Infrastruktur der Lawinenwarndienste, um primär die Skisportler zu servicieren. Warum ist „die Lawine“ so präsent?

Ich glaube, für Menschen ist Natur generell und im Besonderen das Erleben der Bergwelt etwas Gewaltiges. Zum großen Teil ist sie schön, aber auch imposant – und von imposant wird sie zu gewaltig. Im Hintergrund rauscht immer mit, dass es jederzeit vom „jetzt schön“ zum „jetzt tödlich“ oder zumindest gefährlich werden kann. Menschen, die sich der Natur aussetzen, erleben das so. Ich kann allerdings die Dosis wohlen. Wenn man eine Modeskitour geht, auf der 150 Leute unterwegs sind, dann passiert das „sich der Naturgewalt aussetzen“ in einer anderen Dosis, als wenn ich allein in einem anspruchsvollen Gelände unterwegs bin und die Tour selbst anspure. Ich glaub, dass sich Mensch darin recht gut regulieren können, im Sinne von: Wie viel dieser Gewalt der Natur will ich mich aussetzen, wie viel möchte ich davon erleben oder spüren?

Und um beim Thema Lawine zu bleiben: Unsicherheit hat mit Kontrollverlust zu tun. Wenn ich aber etwas im Griff habe und ich das Gefühl habe, ich kann es kontrollieren – auch wenn das vielleicht gar nicht stimmt –, gibt mir das das Gefühl handlungsfähig zu bleiben und so draußen weiter unterwegs sein zu können. Allein, wenn man sich die Sprache ansieht: Man hat das „Lawinenrisiko“, man betreibt ein „Risikomanagement“ und zum Schluss kommt ein „Restrisiko“ heraus. Es gibt Menschen, die können mit dem Restrisiko leben. Der schönere Begriff anstelle von Risiko ist meiner Ansicht nach „Unsicherheit“. Risiko ist gemäß Definition kalkulierbar, Unsicherheit nicht. Das macht es zwar nicht besser, aber ich fühle mich ehrlicher  damit. Dieses Verständnis beeinflusst meine Haltung, sowohl persönlich als auch im professionellen Kontext.

Unsicherheit hat mit Kontrollverlust zu tun.

Bergsteigen ist mittlerweile zum Bergsport und damit messbar geworden. Höhenmeter, Zeiten, Neuschneemengen, Skitourenflugreisen und Likes lassen sich besser verkaufen und scheinen vielen wichtiger zu sein, als eine gute Zeit am Berg mit Freunden. Du hast angesprochen, dass aber eben diese Qualität für private und geführte Gruppen das eigentliche Ziel sein müsste, auch im Unfallkontext. Wie lässt sich das erreichen?

Ich denke, man muss akzeptieren, dass viele verschiedene Sachen stattfinden dürfen. Ob ich das gut oder schlecht finde, ist nur eine persönliche Meinung, die nichts zur Sache tut. Ich für mich möchte aber definieren, wie ich mein Bergsteigen betreiben will. Allerdings muss ich für meine Definition nicht andere abwerten und mich aufwerten. Ich weiß aber, mit welchen Werten ich im professionellen Kontext Menschen draußen begleiten möchte. Ob ich damit erfolgreich bin – sprich, ob ich davon leben und mich ernähren kann –, ist eine andere Frage. Ich habe hier also meinen Grundsatz mit meinen Werten und Vorstellungen, andere dürfen es aber anders machen; im privaten Kontext wohlgemerkt. In der Berufsgemeinschaft der Bergführer hingegen kann man nicht pauschal sagen, jeder soll es machen dürfen, wie er will. Als Profis müssen wir eine Entwicklung zeigen, uns anpassen, gelegentlich an Stellschrauben drehen, um auch immer die Kompetenzträger zu sein. Wenn du zuvor von den Unfällen im Führungskontext berichtet hast, weiß ich nicht, wie ich mit diesen Zahlen umgehen soll. Gut sehen sie nicht aus.

Diskutiert man darüber, argumentieren einige Kollegen, dass es ihre Aufgabe sei, ihren Kunden gegen Honorar etwas zu bieten, das diese sich alleine nie trauen würden. Deshalb fahren sie natürlich steiler und exponierter.

Ich kenne und verstehe diese Aussage, aber ich halte dagegen, dass wir als Bergführer nicht davon reden können, dass es die Kunden sind, die das verlangen und dafür zahlen. Ich definiere selbst, wie Bergführern stattfindet und andere Dinge finden dann eben nicht statt. In einem Kurs kann ich dich gut ausbilden, kann ich dir viel Fachwissen und Technik vermitteln, damit du für dich persönlich dann jene Dinge tun kannst, die du gerne machst. Ich verkaufe als Bergführer keine Absolutionen. Kunden, die das möchten, führe ich nicht.

Okay, ich möchte meine Kunden also ausbilden. Was muss ich als Bergführer dafür mitbringen? Erfahrung, hohes Eigenkönnen oder pädagogisches Geschick und Empathie?

Ich drehe den Spieß um und stelle mir vor, ich bin selbst wieder in der Ausbildung. Was möchte ich von einem Ausbilder, von einer Ausbilderin mitnehmen? Natürlich muss diese Person für mich fachkompetent sein – das ist die Grundlage. Darüber hinaus muss diese Person Fähigkeiten hinsichtlich Führungstechniken haben und diese auch methodisch und didaktisch geschickt transportieren können, schließlich möchte ich diesen Beruf erlernen. Ich erwarte mir also, dass mir diese Person die einschlägigen Sachverhalte so gut oder so lange erklärt, bis ich sie verstanden habe und umsetzen kann. Im Weiteren ist es zentral, wie diese Führungsperson mit Menschen umgeht. Der Beruf hat immerhin mit Menschen zu tun und diese „weichen“ Faktoren sind ein zentraler Bestandteil im Führungskontext, z. B. die Bewältigung stressiger Situationen, der Umgang mit schwierigen Gästen, mit Rückmeldungen u. v. m. Wenn wir ein solches Konglomerat an Ausbilder haben, würden wir sagen: wunderbar! Wenn eine Person das ein oder andere nur mehr oder weniger kann, dann findet ein Ausgleich im Ausbildungsteam statt und das darf auch absolut so sein. Es darf die Person geben, die kompetenter im Fachwissen ist und es darf die Person geben, die kompetenter im Führungskontext ist. So würde ich mir das vorstellen und ich kenne auch genau solche Ausbilder und Ausbilderinnen.

Macht es in der Ausbildung und Arbeit einen Unterschied, ob jemand hauptberuflich als Bergführer unterwegs ist oder das nur gelegentlich als Nebenjob oder Hobby macht?

Ich bin der Meinung, eine Motivation in der Ausbildung muss sehr wohl sein, dass ich das Bergführen als Hauptberuf ausüben möchte. Das muss es nach der Ausbildung auch weiterhin bleiben, da nur über diese Berufsschiene auch eine gute, durchgängige Qualität garantiert werden kann. Die zuvor beschriebenen Entwicklungen und Neuerungen in der Ausbildung lassen sich auch nur über das Engagement von hauptberuflichen Bergführern und Bergführerinnen durchführen, Hobbybergführer haben daran verständlicherweise weniger Interesse.

Bei Unfällen sind wir Sachverständige aufgerufen, aus der ex-ante-Sicht eine Beurteilung abzugeben. Wie kann man Unfälle im Nachhinein so aufbereiten, dass man aus den Fehlern anderer etwas lernen kann?

Die Frage, die sich mir aufdrängt: Sind Unfall und Fehler das Gleiche? Wir haben vorher darüber gesprochen, dass man aus Fehlern anderer lernen kann. Sicher kann man davon ausgehen, dass es, wenn es zu einem Unfall kommt, im Vorfeld irgendeinen Entscheidungsfehler gegeben hat …

… aber es führen ja nicht alle Fehler zu Unfällen. Aber wenn ein Unfall passiert ist, geht es darum herauszufinden, welche Fehler kausal waren und ob sie vermeidbar gewesen wären.

Man muss nur aufpassen, dass man nicht unter dem „Rückschaufehler“ leidet. Blickt man auf einen Unfall, muss man sich in die Situation der Führungsperson, die in diesem Moment nicht wissen konnte, wie die Sache ausgeht, versetzen. Es braucht empathisch dafür Verständnis, warum und wie die Person entschieden hat. Also nicht eine verurteilende Haltung, denn es ist davon auszugehen, dass diese Person in die Berge gegangen ist, um ihre Sache gut zu machen. Hätte sie gewusst, dass sie in einen Unfall hineinläuft, hätte sie anders entschieden.

Die Menschen haben vergessen, dass man in den Bergen umkommen kann.

Man muss nicht jeden Unfall analysieren und an die Öffentlichkeit bringen.

Was ist der Grund, warum Bergsteiger, die selbst Respekt oder Sorge haben müssten, das ihnen mal etwas ähnliches passieren kann, nach Unfällen schnell vorverurteilen und nicht abwarten, bis man alle Umstände kennt?

Es sollte aber auch nicht so sein, dass man niemals etwas sagen darf, weil es mir selber auch passieren könnte – das kann es auch nicht sein … Aber deine Frage spielt auf die Motivation an, warum Menschen das tun? Ich glaub, man muss nicht jeden Unfall analysieren und an die Öffentlichkeit bringen. Schließlich gibt es unterschiedliche Zuständigkeiten, in Österreich etwa die Alpinpolizei, die den Fall aufnimmt. Es gibt Gutachter, die den Fall gemäß ihrer Profession anschauen, es gibt die Zuständigen, die den Fall rechtlich aufarbeiten usw. Nicht aus jedem Unfall muss man eine Lehre ziehen. Beim Abseilen weiß man, dass man abstürzen kann und auch wie der entsprechende Unfallmechanismus aussieht. Das ist zigmal veröffentlicht, bekannt und wird ausgebildet – was soll man da also noch lernen?

Aber wo bleibt die Empathie nach solchen Unfällen …

… Empathie ist für mich in erster Linie, dass man zuerst an die verletzte oder gar tödlich verunglückte Person denkt, die irgendwo irgendjemandem fehlt. Dafür Mitgefühl zu haben ist das, was ich zeigen möchte. Zu diesem Mitgefühl gehört auch, dass man das nicht öffentlich an die große Glocke hängt. Wenn nach einem Unfall Menschen sofort mit Schuldzuweisungen und Besserwisserei zur Stelle sind, dann impliziert das vielleicht, dass sie es besser gewusst hätten. Ich weiß auch nicht, warum Menschen das tun. Aber wenn man sagt: „Das hätte er erkennen müssen“, dann bedeutet das: „Ich habe es gesehen, ich hätte die Kontrolle gehabt und dadurch wäre alles nicht so schlimm gewesen.“ Ich glaube, Menschen machen das, weil es sonst nicht „aushaltbar“ ist. Schwierige Situationen auszuhalten ist echt schwierig. Menschen gehen in die Rechtfertigung, in die Verurteilung. Letztendlich ist es ein Abwerten – sprich ich werte die Gegenseite ab und werte mich damit auf.

Muss man akzeptieren, dass man beim Skitourengehen unter einer Lawine sterben kann?

Das hat nichts mit Akzeptieren zu tun. Eine Lawine ist tödlich. Ich glaube, Menschen haben vergessen, dass man in den Bergen umkommen kann. Wenn ich privat in die Berge gehe, dann ist das auch vollkommen in Ordnung, anders ist es im Führungskontext. Die Naturgewalt kann eben auch dazu führen, dass die Tour nicht gut endet. Menschen beschreiben das da draußen immer als so schön und fühlen sich immer so frei und alles ist immer so positiv besetzt. Das ist es auch, alles in Ordnung. Aber im Hintergrund schwingt immer mit, dass es von jetzt auf sofort von schön in brutal wechseln kann. Und im Brutalen der Natur steckt eben auch der Tod – das gehört dazu. Als Bergführer möchte ich dort aber nicht hinkommen.

Das Gespräch wurde von Christina Schwann verschriftlicht.
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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

„Meine Couch sind die Berge“

By Interview
Interview erschienen in Alpstyle

Psychologe und Bergführer Pauli Trenkwalder im Portrait

Wir treffen Pauli Trenkwalder im Ridnauntal der Gemeinde Ratschings. Von hier ist es nur noch ein Steinwurf hinüber ins benachbarte Pflerschtal, wo der Psychologe gemeinsam mit seiner Frau und Tochter lebt. Der sportliche Südtiroler sitzt uns mit langen, lockigen Haaren und wachen Augen gegenüber. Dabei erzählt er, wie er zwei auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Berufe vereint, welche Vorteile die Natur bietet, wenn man sie nur als Arbeitsplatz zulässt. Und er erzählt, dass seine eigentliche Aufgabe nicht das Erzählen, sondern vielmehr das Zuhören ist.

Pauli lebt schon immer hier, nahe dem Brenner, in den Südtiroler Bergen. Was zuerst da war, möchten wir von ihm wissen: Der Bergsteiger in ihm, oder der Psychologe?

Die Leidenschaft, das Interesse war von beidem da. Das eine war ein Studium. Das andere entwickelte sich aus einer Leidenschaft. Aus dem Klettern. Aus dem Bergsteigen. Aus dem Tun.

Und so dauerte es nicht lange, bis der junge Trenkwalder sich fragte, ob man davon nicht auch leben könne. Mit vielen Freunden und Bekannten, die entweder noch in der Bergführerausbildung oder schon ausgebildet waren, sah er einen Weg. Quasi zweigleisig schloss er beides ab. In München folgte eine systemische Ausbildung, in Österreich eine klinische und gesundheitspsychologische Ausbildung. Und dann kombinierte der Bergfreund, was seiner Meinung nach ohnehin gar nicht so weit voneinander entfernt ist.

Meine Couch sind die Berge. Ich bin zwar immer noch ganz klassisch rein als Bergführer und im Lehrteam des Deutschen Alpenvereins als Ausbilder unterwegs, aber eben auch als Psychologe. Mit den Menschen, die zu mir kommen, gehe ich dann raus – in die Berge.

Italien, Deutschland, Schweiz: Paulis Werdegang ist fast im ganzen Alpenraum verstreut. Er ist ein Macher. Energiegeladen. Und zweifelsfrei mit einem festen Willen. Die Kombination Bergführer und Psychologe gäbe es ja nicht oft, so sagt er. Aber die Kombination macht eben auch Sinn!

Am ehesten lässt sich das vielleicht mit einem Zitat einer meiner Kundinnen beschreiben. Die leidenschaftliche Skifahrerin sagte mir auf einer Skitour, dass sie glaube, wenn ihr Herz aufgehe, wie in diesem Moment kurz vor der pulvrigen Abfahrt, dann gehe ja auch viel leichter etwas in dieses Herz hinein!

Wer sind die Menschen, die Trenkwalder aufsuchen? Und was kann er für sie tun? Der Bergpsychologe beschreibt auf diese Frage sein Tun als niederschwelliges, psychologisches Angebot. Wer berufliche oder private Entscheidungen treffen muss, wer so etwas gerne extern besprechen möchte, der ist bei Pauli genau richtig aufgehoben.

Selbstverständlich sind das Menschen, die ohnehin schon einen großen Bezug zu den Bergen haben. Und draußen auf Tour, ist die psychologische Arbeit Trenkwalders keine andere als die eines ganz gewöhnlichen Psychologen. Doch ist es die Natur, die Umgebung, oder viel mehr was wir Menschen in ihr sehen, was beiden Seiten einen enormen Vorteil bieten kann.

Oft sprechen wir dann über Stunden nichts. Das sind wertvolle Momente. Manchmal höre ich auch nur zu. Die Menschen, die zu mir kommen haben ja keine psychische Erkrankung. Sie brauchen keine Therapie, sondern eine Unterstützung, eine Hilfestellung in einer schwierigen Situation.

Teambuilding. Waldbaden. Die Heilkraft der Natur. Mit all dem kann Pauli recht wenig anfangen – schließlich sei das ja kein Hokuspokus was er da mache. Was folgt, ist ein Erklärungsversuch. Das Setting, also der Rahmen, in welchem diese Gespräche stattfinden, sind die Berge. Da ist es erstmal zweitrangig, ob das nun ein Spaziergang, eine Bergwanderung, eine Kletter-, oder Skitour ist. Wichtig sei eben, dass einem das Herz aufgehe.

An die eigenen Grenzen zu gehen sei dabei nicht nötig, meistens auch gar nicht förderlich. Viel wichtiger sei es, dass die Beziehungsebene zwischen dem Klienten und ihm passend ist, eine Ebene, auf der man etwas gemeinsam hat. Im besten Fall bewegt man sich auf der gleichen Wellenlänge. Diese Beziehungsarbeit ist ein wichtiger Teil seiner Aufgabe und gerade hier tun ihm die Berge einen großen Gefallen. Meistens kommen die Menschen mit einer positiven Grundeinstellung zu ihm. Immerhin geht es ja in die Berge, in ein Abenteuer, ins Vergnügen, odereinfach in den Urlaub. Das ist das Fundament.

Dazu kommt, dass wir nicht nur eine Stunde in einem Raum miteinander verbringen, sondern den ganzen Tag! Unterwegs ist es befreiend, wenn der Blick schweifen kann. Es gibt nicht diesen Druck: Was soll ich jetzt tun? Was soll ich jetzt sagen? Oft passiert zwischen meinem Gast und mir stundenlang scheinbar nichts. Doch der Schein trügt. Oft passiert genau in diesen Momenten sehr viel!

Wir philosophieren noch lange über Paulis Arbeitsweise. Über die Berge. Über die anspruchsvollen Erstbegehungen in weit entfernten Ländern, die ihm gelangen, lange bevor er als Ehemann und Familienvater ein neues Lebenskapitel eröffnete. Heute fotografiert er leidenschaftlich gerne. Natürlich das Lieblingsmotiv: Große Berge und kleine Menschen. 

Uns gegenüber sitzt ein interessanter Mensch, eine spannende Persönlichkeit, die ganz sicher gefunden hat, was sie glücklich gemacht hat. Denn auch das, so sagt er, muss man ja erstmal finden. Spüren. Erleben!

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Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Pauli Trenkwalder – Interview

By Interview
Interview erschienen in …

Pauli Trenkwalder – Interview

Gehst du in die Berge, wenn du Probleme hast?
Ja, ich kann in den Bergen gut entspannen und über Dinge nachdenken. Ich fahre das System besser hinunter.

Du fährst das System hinunter? Was passiert denn am Berg?
Viele Menschen sagen, in den Bergen fühle ich mich frei. Ein schwieriges Wort für mich. Aber etwas passiert tatsächlich da oben. Der Glücksforscher Czikszentmihalyi nennt es Floweffekt, also ein Glücksgefühl, das sich einstellt, wenn man eine Extremsituation überstanden hat. Der Neurobiologe Arne Dietrich, den ich sehr gut kenne, hat diesen Ansatz weiterentwickelt. Er sagt, es gibt in uns ein implizites und explizites Hirnkastl. Durch die Tätigkeit beim Wandern oder Klettern fährt das explizite System herunter, übrig bleibt der Autopilot und es beginnt eine kreative Phase, in der sich Lösungswege aufzeigen. Man könnte sagen, ich strenge mich nicht mehr an zu denken. Ich muss beim Gehen nicht nachdenken, wie ich meinen Fuß nach vorne setze. Diese Bewegung ist automatisiert, deshalb kann ich mich auf andere Sachen konzentrieren und dann spüre ich, jetzt fließt es…

Wer kommt zu dir? Was sind das für Menschen?
Wir bieten keine Psychotherapie an. Wir machen Gesundheitsförderung. So nennen wir das. Da gab es zum Beispiel eine Friseurin, die in einem anderen Beruf noch einmal neu beginnen will? Oder Führungskräfte, die sich weiterentwickeln möchten. Oder eben ein Klient, der es nie länger als drei Jahre schafft, eine Liebesbeziehung aufrechtzuerhalten. Es sind Menschen, die vor einem Problem stehen und das anschauen möchten.

Bringst du auch Menschen in die Berge, die vorher nie eine Beziehung zum Berg gehabt haben?
Nein. Die melden sich gar nicht. Wer zu mir kommt, der will nicht klettern lernen. Der sucht eine „Kulisse“, in der er sich gut fühlt. Mit einer Klientin war ich auf Skitour, es war super Pulverschnee und schlechtes Wetter, aber sie hat gesagt, ihr geht da das Herz auf. Klar, wenn ihr das Herz aufgeht, ist es für mich leichter, mit ihr zu arbeiten, weil dann auch etwas ins Herz hinein geht. Ich bin am Berg ja in einer Doppelfunktion unterwegs. Als Psychologe bin ich nahe dran am Menschen, als Bergführer bin ich auch einmal 30 bis 50 Meter weit weg. So kann sich mein Gast aufs Klettern konzentrieren und auf die Gedanken, die sich dabei einstellen. Ich setze dann nur einige Nadeln.

Von welchen Nadeln sprichst du?
Ich kann dir eine Frage stellen, mit der ich spiegle, was du gesagt hast, dann rattert das in deinem Hirnkastl. Und das geht den ganzen Tag lang. Eine Therapiesitzung im Tal dauert normalerweise 50 Minuten, wenn ich als Coach einmal nicht weiterkomme, dann rette ich mich über diese Stunde schon drüber. Wenn ich hingegen den ganzen Tag ausgesetzt bin, ist das viel effektiver, aber natürlich auch anstrengender.

Wie wichtig ist das Thema Grenzen annehmen, ausloten oder überwinden?
Bei Führungskräften, die exponiert sind, mag es sinnvoll sein, daran zu arbeiten. Aber sonst führe ich niemanden bewusst an seine Grenzen. Als Bergführer habe ich die Aufgabe, den Menschen zu sichern, damit er nicht abstürzt. Als Psychologe habe ich den gleichen Auftrag. Ich muss ihn in seine geistigen Welten gut hinein und wieder herausführen. Einen Menschen psychisch zu exponieren, finde ich nicht richtig. Ich führe auch Kinder nicht mit der Hand auf die heiße Herdplatte, damit sie verstehen, dass das wehtut.

Was kann ich also am Berg lernen, wenn ich mit dir unterwegs bin?
Huh, da kommen wir jetzt in den Bereich der großen Versprechen. Wir kennen alle diese Angebote zum Teambuilding, wo Mitarbeiter einer Firma zusammen auf den Berg gehen, ein Floss bauen und gemeinsam den Fluss hinunterfahren, und alle erwarten, danach werdet ihr besser zusammenarbeiten. Man weiß, evidenzbasiert, dass das Humbug ist. Die haben ein tolles Erlebnis, ganz sicher, aber der Effekt wird aus meiner Sicht überhöht.

Ich kann also gar nichts lernen am Berg?
Doch, wenn du in der „Wildnis“ unterwegs bist, fühlst du dieses Ausgesetztsein, du musst Entscheidungen treffen und spürst Hunger, Durst, Kälte, Müdigkeit, Hitze. Das sind die wirklichen Werte von diesem Erlebnis, nicht, ob du einen Transfer vom Berg ins alltägliche Leben herstellen kannst oder nicht. Ich als Pauli Trenkwalder kann das sicher nicht leisten. Ich werde dich begleiten, ich werde dich dorthin führen, wo es für dich unangenehm ist, und mit dir Verhaltensmuster aufdecken, die sich im Lauf des Lebens bei dir eingeschlichen haben. Darum geht es ja. Du kommst zu mir, weil du dich weiterentwickeln willst. Ich sichere dich mit dem Seil, wie es ein Bergführer auch tut. Und ich habe den Kompass, ich weiß, wie weit ich gehen kann. Auch bei dir. Und ich gehe so weit, wie du es mir sagst. Aber arbeiten an dir musst du.

Und wenn der Gast nicht auf den Gipfel kommt, kommt er halt nicht hinauf…
Ja, in Bergsteigerkreisen heißt es oft, der Gipfel ist das Ziel. Andere sagen: Das Ziel ist der Weg. Ich sage: Oft ist das Ziel im Weg. Der Gipfel ist nicht so wichtig. Wichtig ist das Unterwegssein. Es ist wichtig, dass du innerlich, in deinen Themen unterwegs bist, dann wird sich etwas ändern.

Kann ich ein Muster erlernen? Wenn ich mich zum Beispiel daran erinnere, wie ich am Berg eine schwierige Situation gemeistert habe?
Ein wesentlicher Bestandteil psychischer Gesundheit ist die Selbstwirksamkeit, also wenn ich etwas gegen Widerstand mache und Erfolg habe. Am Berg handle ich oft gegen Widerstände: jetzt muss ich die Zähne zusammenbeißen, jetzt muss ich durchhalten, muss mich in Geduld üben, auch einmal demütig sein, auch einmal scheitern. Diese Selbstwirksamkeit kann man von den Bergen in sein Berufsleben – oder auch Privatleben – übertragen. Wenn ich gesehen habe, ich habe das ausgehalten am Berg, obwohl ich müde war und Durst hatte, dann bin ich stolz auf mich. Das sagen mir die Menschen auch: Ich bin stolz auf mich, ich habe durchgehalten.

Arbeitest du eher an den Stärken oder an den Schwächen deiner Klienten?
Richtig ist, die Stärken zu stärken und sich nicht lange bei den Schwächen aufzuhalten. Der Arzt und Kabarettist Eckart von Hirschhausen hat einmal gesagt, wenn du ein Pinguin bist, wird aus dir auch nach sieben Jahren Therapie nicht eine Giraffe werden. Und die Stärke des Pinguins ist halt das Schwimmen und nicht der Marathonlauf.

Wie sehr muss man sich am Berg plagen, dass es mir im Alltag nützt.
Wenn man sich nicht plagen will, wird man halt nicht Vorstandsvorsitzender werden. Einige Führungskräfte, die ich schon lange begleite, haben eine hohe Leidensfähigkeit, die klagen nie, die sind demütig und geduldig, und die halten durch, auch wenn man genau sieht, dass es jetzt anstrengend für sie ist.

Kann man sich ans Leiden gewöhnen, um mehr auszuhalten…
Die Qualität, etwas auszuhalten da draußen, Anstrengung wegzustecken, das kann ich übertragen auf mein Leben, da kann ich mir sagen, jetzt muss ich mich einfach mal durchbeißen. Ich bin aber der Meinung, dass man sich entspannen darf am Berg. Manchmal reicht es, einfach hinauszugehen. Das allein tut schon gut. Wir in Südtirol haben diese Qualität! Der eine braucht den Spaziergang rund um den Montiggler See, der andere muss die Drei Zinnen besteigen, aber was beide tun müssen, ist, sie müssen hinausgehen. Sie müssen es machen.

Haben wir viele Probleme deshalb, weil wir zu wenig draußen in der Natur sind?
Du musst nur schauen, wie viele Leute unbewusst in die Natur gehen. Und wenn sie zurückkommen, sagen sie, das hat mir gut getan. In der Natur passiert irgendwas mit ihnen. Dieses Hinausgehen machen die meisten intuitiv, es ist etwas, was Menschen treibt. Wenn unsere Vorfahren nicht hinausgegangen wären, um Himbeeren zu suchen und den Säbelzahntiger zu erlegen, würden wir ja noch immer in der Höhle hocken.

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