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Interview erschienen in …

Auf dem Weg zu mir selbst

Berge tun der Seele gut. Aber können sie auch Probleme lösen? Marie Van Elst hat es ausprobiert und liess sich von Pauli Trenkwalder in den Bergen Südtirols zu sich selbst führen.

Was für ein Anblick! Der Himmel über dem gut 2000 Meter hohen Jaufenpass nahe Sterzing strahlt blauer als von der schönsten Postkarte. Am liebsten würde ich einfach genau hier bleiben und mich sattsehen. ,,Dort wollen wir heute rauf.“ Pauli Trenkwalder, mein Bergführer, zeigt in Richtung Gipfel. Ich kneife die Augen zusammen. Die Sonne blendet mich. Irgendwo zwischen Wiese und Fels kann ich einen schmalen Weg erkennen. Sieht steil aus. Ob mir beim Anstieg genug Atem zum Reden bleibt? Schließlich bin ich deshalb hierhergekommen.

 

Etwas verändern

Es ist nämlich so: Ich bin ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten. Job, Familie, Partnerschaft und der Wunsch, auch ein bisschen noch mein eigenes Ding zu machen – irgendwann dachte ich mal, ich bekäme das alles locker unter einen Hut. Aber ich merke immer mehr, wie ich ständig meinen eigenen Ansprüchen hinterherhetze. Zumal ich auch gerne noch jedes zusätzlichePäckchen mitnehme, das das Leben mir vor die Füße wirft. ,,Klar, das schaff ich auch noch“, denke ich dann. Doch langsam geht mir die Kraft aus. Und ich würde sie mir sehr gerne zurückholen.

Pauli Trenkwalder kennt diesen Wunsch. Seit 14 Jahren arbeitet er als Psychologe. Und zwar ohne Couch und Praxis, sondern in den Bergen. Der 44-Jährige ist in Südtirol aufgewachsen. Sein Vater arbeitete bei der Bergrettung, Pauli klettert, seit er laufen kann. Er weiß, wie gefährlich die Berge sind, aber auch, wie gut sie der Seele tun können. Deshalb hat er vor ein paar Jahren beides verbunden – Psychologie und Wandern. ,,Bei meiner Arbeit als Bergführer habe ich gemerkt, dass die Menschen hier draußen besser über sich selbst und ihre Gefühle reden können. Für mich als Psychologen sind das optimale Voraussetzungen.“ Zu ihm kommen Leute mit Beziehungsproblemen, die Orientierung suchen oder bei einer schweren Entscheidung unterstützt werden wollen. Pauli setzt bei seiner Form der Therapie vor allem auf geteilte Zeit, gemeinsame Erlebnisse und den natürlichen Rhythmus, der sich beim Wandern ergibt. Ich allerdings zweifle noch, ob ein einziger Tag ausreicht, um mich einem Fremden zu öffnen.

 

Nichts Anmerken lassen

Als wir losgehen, ist der Weg breit und relativ flach. Ich nehme die ersten Meter so schnell, dass ich direkt außer Atem bin. Für den blauen Himmel, die blühenden Wiesen und die mächtigen, zum Teil selbst jetzt im Sommer noch weiß getupften Berge rundum habe ich gar kein Auge. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, so geräuschlos wie möglich weiterzuatmen, damit Pauli mir die Anstrengung nicht anmerkt. An der ersten etwas schwierigen Stelle will er mir die Hand reichen. ,,Ich schaffe das schon!“, sage ich, und es klingt schroffer als beabsichtigt. Eigentlich ist es mir auf dem engen Steig mit dem dünnen Drahtseil als einzigem Halt nämlich schon etwas mulmig. Pauli lächelt verständnisvoll, und die kleinen Falten um seine grünen Augen graben sich tiefer in seine sonnengebräunte Haut. Ich lächle zögerlich zurück. Was er jetzt wohl von mir denkt?

„Die Menschen denken, ich könnte sie lesen wie ein Buch“, sagt er in die Stille. Ich fühle mich ertappt. Viele glaubten, so Pauli, dass man als Psychologe lerne, alles zu deuten und zu interpretieren. Das stimme zwar nicht, aber dennoch nutze er diesen Irrtum gerne, um seinen Klienten am Berg näherzukommen und das Ungesagte, das, was wirklich auf ihrer Seele liege, aus ihnen herauszukitzeln. ,,Oft geht es bei meiner Arbeit darum, Verhaltensmuster aufzudecken.“ Viele stammen noch aus der Kindheit. Sie haben sich zu irgendeinem Zeitpunkt bewährt. Doch jetzt stören sie. So wie mein Drang, keine Schwäche zu zeigen. Schule, Uni, Job – er war lange mein Motor. Doch jetzt, wo ich in meinem Leben angekommen bin, hindert er mich daran, Ruhe zu finden. Ich gönne mir keine Pausen.

 

Müssen oder Wollen

Pauli übernimmt die Führung. Ich lasse ihn das Tempo bestimmen. Wir werden langsamer. Endlich kann auch ich meinen Blick schweifen lassen, registriere die weiß blühenden Heidelbeersträucher am Wegesrand, die wilden Blumen auf den Wiesen und die mächtigen Ötztaler Alpen am Horizont. Ich atme tief durch und versuche, diese unglaubliche Weite in mir aufzunehmen. Während meine Schritte endlich ihren Rhythmus finden und sich mein Atem normalisiert, geht Pauli in Vorleistung und erzählt viel über sich, seine Tochter und seine Frau, mit der er sich immer über die richtige Methode zum Wäscheaufhängen zankt. Ich lache, bleibe stehen. Unter uns, im Jaufental, versprechen einzelne Holzhäuser Geborgenheit, wie man sie aus den Geschichten von Heidi kennt. Über uns zieht ein Adler seine Kreise.

Ich merke, wie meine Schale knackt. Ich gehe weiter und muss an meine Familie denken, meinen Alltag, meine Arbeit. ,,Wo bist du jetzt?“ Paulis Frage schreckt mich auf. ,,Ich weiß es nicht.“ Die Gedanken sind zu schnell. Ob mein Mann die Waschmaschine in meiner Abwesenheit mal angeschmissen hat? Schaffe ich die liegen gebliebene Arbeit auf meinem Schreibtisch? Vermissen mich die Kinder? Alle Fragen stellen sich gleichzeitig, so wie im Alltag oft alle Aufgaben. Ich bin überwältigt von dem Gefühl, mich um so vieles kümmern zu müssen. ,,Musst du das wirklich?“, fragt Pauli.

 

Den Blickwinkel ändern

Nach gut 45 Minuten Wandern sind wir bei einer zentralen Frage meines Lebens angelangt. ,,Muss ich das wirklich?“ Ich glaube schon. Trotzdem gestehe ich Pauli, wie ich mich abends manchmal ins dunkle Schlafzimmer schleiche, während meine Söhne mit meinem Mann die Zähne putzen. Fünf Minuten Ruhe und Stille. ,,Das ist doch großartig“, sagt Pauli. ,,Da hast du doch einenwunderbaren Weg gefunden, um deine Belastung abzumildern und dich zu entspannen.“ – ,,Aber es sind doch bloß fünf Minuten“, erwidere ich. ,,Viele Menschen schaffen selbst das nicht. Da sind alle Ventile zu. Dann kommt der Burn-out.“

Bisher habe ich meine Minuten im Schlafzimmer immer als Flucht gewertet. Ich bin nicht bei den Kindern, helfe meinem Mann nicht. Pauli dreht den Gedanken einfach um. Ich bin überrascht, wie einfach man den Blickwinkel wechseln kann. Natürlich gelingt das nicht immer so leicht. Aber die Idee beschwingt mich. Obwohl der Pass zum Gipfel hin immer schmaler und steiler wird, werden meine Schritte leichter und sicherer. Ich spüre die warme Sonne. Wie schön es hier ist! In mir wächst das Gefühl, mit einem Freund unterwegs zu sein. Die Sorte, die nicht nur redet, sondern auch fragt und einen herausfordert.

 

Auf dem Weg

Die letzten Schritte zum Gipfel lässt Pauli mich allein gehen. So habe ich alles einen Moment lang für mich – meine Gedanken, die schroffen Felsen und diese unfassbare Aussicht. Bis zum Horizont türmen sich die Berge wie Wellen. Manche sind mit vollen Wäldern bewachsen, andere schneebedeckt. Ich komme mir klein und gleichzeitig wahnsinnig groß vor. Ich fühle mich stark und voller Energie. Eigentlich ist es doch ganz gut, mein Leben. Ich muss nur öfter durchatmen. Im dunklen Schlafzimmer oder eben hier in den Bergen. Diesen Gedanken werde ich festhalten und mitnehmen – auf meinem Weg ins Tal und in meinen Alltag.

 

Coaching in den Bergen und Anreise

Pauli Trenkwalder erklimmt mit seinen Klienten je nach Wunsch Gipfel oder führt sie auch auf mehrtägige Touren. Preis nach Absprache. Menschundberg.com
Anreisen nach Südtirol kann man gut mit der Bahn (bahn.de). Von München über den Brenner gibt es täglich fünf direkte Verbindungen nach Bozen. Von dort geht’s zu den weiteren Reisezielen bequem und günstig mit dem gut ausgebauten Nahverkehrssystem. Nähere  Informationen finden sich unter suedtirol.info/anreise

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