Interview erschienen in …
Risiko
Woran denken wir, wenn wir auf den Trails unterwegs sind? Auch an die Gefahr? Und was ist das, was uns am Riskanten manchmal so reizt? Eine Spurensuche im Grenzgebiet zwischen Selbsterfahrung und Selbstüberschätzung.
Am Dienstag, dem 7. Juni dieses Jahres kam es auf dem Heuberggrat bei Hirschegg im Kleinwalsertal zu einem Zwischenfall, der es einzig deshalb nur auf die bunten Seiten der regionalen und überregionalen Presse bringen sollte, weil glücklicherweise dann doch nicht wirklich viel passiert war. Außer einem Hubschraubereinsatz der Bergwacht. Kostenpunkt rund 18.000 Euro. 99 Schüler:innen aus dem Raum Ludwigshafen mussten aus halbhöchster Bergnot gerettet werden. Erschöpft, durchnässt und buchstäblich verstiegen.
Was war passiert? Einer der Lehrer hatte zuvor auf dem Routenportal Komoot eine passende Wanderung für die Jugendlichen Komoot eine passende Wanderung für die Jugendlichen gefunden. Zweieinhalb Stunden Gehzeit und als „Feierabendrunde“ angepriesen. Nun ahnen wir, und inzwischen weiß das auch der Lehrer: Feierabendrunde ist ein recht dehnbarer Begriff. Tatsächlich war besagte Wanderung in den offiziellen Tourismusprospekten nicht mehr aufgeführt, der Boden sei erodiert, der Pfad teilweise schwer zu finden.
Anruf Im Eisacktal in Südtirol bei Pauli Trenkwalder. Bergführer, Coach und Psychologe. Wie es denn nun bestellt sei, um das Verhältnis von uns Menschen, den Bergen und dem Internet? Und was das alles mit unserem Risikobewusstsein zu tun habe? Nehmen wir die Berge, als Erlebnis und mehr noch als Erfahrungsraum, vielleicht einfach nicht mehr ernst? „Ich mag das gar nicht gegeneinander ausspielen“, sagt Trenkwalder, „auf der einen Seite erfahrene Alpinist:innen, die vielleicht ein wenig zu lässig mit ihrem Können und ihrem Zutrauen prahlen. Auf der anderen Seite bergunerfahrene Menschen, die gar nicht in der Lage sind zu reflektieren, was die Berge überhaupt sind, die eine Story etwa in den Sozialen Medien finden und sagen: Das will ich auch.“ Problematisch werde es spätestens, wenn sich diese beiden Phänomene gegenseitig verstärken. Wenn die Heldengeschichten der einen, auf den Event- und Experiencehunger der anderen treffen. Wenn also der GoPro Film von Kilian Jornet (nicht jede:r weiß ja, dass der extreme Weitwinkel dieser Actionkameras, eine Gratüberquerung noch einmal todesmutiger ausschauen lässt) in den Sozialen Medien als ein cooles Beispiel dafür gelesen wird, wie lässig doch dieses Trailrunning sei. Das jedenfalls hat auch Pauli Trenkwalder notiert: „Viele nehmen sich heute gar nicht mehr die Zeit, sich auf neue Herausforderungen, auf neue Erfahrungen einzulassen und sich die Zeit dafür zu nehmen. Früher kamen zu uns Bergführern Leute mit wirklicher Erfahrung, um den nächsten Schritt zu wagen. Heute wollen manche von Null auf Viertausend, mindestens. Im nächsten Jahr sind sie dann schon wieder beim nächsten Lifestyle-Trend angekommen.“
Sich spüren müssen
Unsere Leidenschaft für die Berge, sagt Philipp Felsch. Kulturphilosoph aus Berlin und als solcher vor einigen Jahren etwa mit einer Ausstellung zur Geschichte des Deutschen Alpenvereins betraut, sei eben immer auch eine Reaktion auf einen zunehmend modernen, abstrakten Alltag gewesen. „Eine Suche nach dem Archaischen, das ein Bürojob nicht mehr bieten kann.“ Vielleicht sei diese Sehnsucht, dieses „Sich spüren müssen“ ja immer noch mit uns unterwegs – wenn vielleicht nicht Bewusst, aber unbewusst. Deshalb eine Mail an Jonathan Albon, einem der weltbesten Trail- und Obstaclerunner und etwa Sieger der Glen Coe Skyline, mit dem ich vor rund drei Jahren ein sehr erhellendes Interview über die Unterschiede der beiden Sportarten, zwischen eben der Glen Coe Skyline und einem Spartan Race geführt habe. Jonathan Albon schreibt mir: „Die Leute hängen bei einem Hindernisrennen an irgendwelchen Seilen, tauchen durch den Schlamm, hangeln sich über vermeintliche Abgründe, erleben den Thrill ihres Lebens … und betreiben letztlich ein aufwendig inszeniertes Spektakel mit Sicherheitsnetz und doppeltem Boden. Dann laufen sie auf einem Trail nur ein, zwei Meter an einer Stelle vorbei, an der sie schwer, ja sogar tödlich stürzen könnten, und bekommen es vermutlich gar nicht mit.“
Andrea Huser, kreuzsympathische Schweizerin und nicht im Ansatz bekannt dafür, die Risiken ihres Sports und des alpinen Terrains zu unterschätzen, hatte auf einer alltäglichen Trainingsrunde im November 2020 in einem offensichtlich vereisten Bachbett den Halt verloren und war 140 Meter tödlich in die Tiefe gestürzt. „Das solche Unfälle passieren können, egal wie versiert oder wie achtsam wir unterwegs sind“, sagt Pauli Trenkwalder, „ist eine Erkenntnis, die jeder und jede haben sollte, der oder die in den Berge unterwegs ist. Ich glaube aber nicht, dass sich alle die Zeit oder die Muße für diese Erkenntnis nehmen.“
Was also eine Kernkompetenz für den Sport in den Bergen sei? „Die Reflexion und das Selbstbewusstsein, auch Nein sagen zu können.“ Nein, dieses Kletterstück ist mir zu schwer. Nein, dieses Tempo zu hoch. Ja, jetzt ist es an der Zeit für mich umzukehren.
Eine immerhin beruhigende Feststellung: Die auch aufgrund der nicht wegzuredenden Wettereskapaden zunehmend häufigere Entscheidung von Rennveranstaltern. Strecken umzulegen, zu verkürzen oder ein Rennen abzubrechen beziehungsweise ganz abzusagen, wird von den Teilnehmenden vor Ort und in den Sozialen Medien inzwischen entspannt bis verständnisvoll kommentiert. Nicht nur, weil es zuletzt zu einigen tragischen Unfällen kam. So wurde auf dem exponierten Kurs des Südtirol Skyrace 2019 eine norwegische Teilnehmerin tödlich von einem Blitz getroffen – kurz nachdem das Rennen bereits wetterbedingt abgebrochen war. Leider hatte sie die diesbezügliche SMS aber noch nicht gelesen. Mögen Einzelne vielleicht immer noch glauben, diese Gefahren seien ein Teil des Spiels (oder einfach nicht der Rede wert), scheint unsere Community also doch sehr gut aufeinander aufzupassen.
Einmal habe ich mich wissentlich, also willentlich, in Gefahr begeben. Auf dem Pfunderer Höhenweg in Zillertaler Alpen, noch immer einer der schönsten Trails, die ich je gelaufen bin. Ich hatte die Tour von Berlin aus geplant, im Internet. Ich kannte die Gegend. Also grob. Den Pfunderer Höhenweg kannte ich nicht. Also mit dem Nachtzug nach München und weiter mit dem Eurocity. Morgens um 10 Uhr war ich in Brixen und eine Stunde später schon auf den Trails. Am zweiten Tag und nach gut fünfeinhalb Stunden Laufzeit zwänge ich mich durch einen Spalt in den Felsen, die Gaisscharte, und werde mit einem traumhaften Panoramablick belohnt. Vor und auch unter mir, die Edelrauthütte, mein Nachtquartier, es sind allenfalls noch 50, 60 Minuten. Nur: Erst einmal geht es senkrecht hinunter. Eine blanke Wand und einige versetzt angebrachte Tritte, darüber ein Stahlseil, zum Festhalten und vor allem zum Einhaken. Nur habe ich nichts zum Einhaken dabei. Was tun? Umkehren und irgendwann im Stockdunklen wieder die Brixener Hütte erreichen, meine heutige Mittagsrast? Und: Habe ich dafür überhaupt genug Energie? Finde ich noch irgendwo einen Riegel? Was traue ich der halben Schinkensemmel in meinem Trailrucksack zu?
Ich habe mich stattdessen auf einen Felsvorsprung gesetzt. Habe drei, vier Minuten ruhig ein und vor allem ausgeatmet. Und mich dann in die Wand gewagt. War letztendlich gar kein Problem. Bis heute bin ich nicht stolz auf diese Aktion.
Strecken umzulegen, zu verkürzen oder ein Rennen abzubrechen beziehungsweise ganz abzusagen, wird von den Teilnehmenden vor Ort und in den Sozialen Medien inzwischen entspannt bis verständnisvoll kommentiert.