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Berge als Anti-Depressivum?
Welche Rolle spielen Berg- und Outdoorsport für die Gesundheit und bei psychischen Erkrankungen? Ein Ausblick auf Prophylaxe und Therapie >> Franziska Horn
Wir haben es geahnt: Bergsport ist gesund. Doch was heißt das wirklich? Wie wirken Wandern und Klettern auf Körper und Geist? Und: Hilft Outdoorsport auch bei psychischen Erkrankungen? Auf dem Fachsymposium „Bergsport & Gesundheit“ präsentierte der Österreichische Alpenverein im November 2016 Ergebnisse seines dreijährigen Arbeitsschwerpunkts in Kooperation mit Wissenschaftlern der beteiligten Disziplinen.
Psychische Erkrankungen nehmen zu
In seinem Vortrag “Bergwandern und psychische Erkrankung: ein Therapieansatz?“ verweist Reinhold Fartacek, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, auf den derzeitigen Ist-Stand der Gesellschaft. Für Fartacek bildet die bestehende Leistungsgesellschaft – mit hohen Ansprüchen an sich und andere, quer durch alle Lebensbereiche – den Rahmen oder sogar Nährboden für eine mögliche psychische Überlastung. Damit steigt die Gefahr, psychisch zu erkranken, z. B. am Burnout- Syndrom oder an Depressionen. Laut Messungen der World Health Organisation (WHO) sind unipolare Depressionen zwischen 2008 und 2011 im Vergleich zu anderen körperlichen Erkrankungen überproportional angestiegen. Tatsache ist: Fast jeder wird einmal im Leben mit einer psychischen Krankheit konfrontiert, sei es in Form einer Essstörung, Sucht, eines Burnout-Syndroms oder einer Lebenskrise. Depressionen gelten dabei als Volkskrankheit, unter der 4 Millionen Deutsche leiden. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums sind schätzungsweise 350 Millionen Menschen weltweit von Depression betroffen. Laut Sozialversicherungsstudie werden jährlich 11 Prozent der Österreicher (900.000) wegen psychischen Erkrankungen behandelt, dabei sind die Ausfälle wegen Burnout oder Überlastungsdepression am höchsten. Laut Suicide data der WHO aus dem Jahr 2015 sterben jedes Jahr bis zu 800.000 Menschen durch Selbstmord, die Zahl versuchter Suizide vermutet man weitaus höher.
Wie wirkt Bergsport?
Um die Wirkung von Outdoorsport zu überprüfen, untersuchte Fartacek im Rahmen seiner Tätigkeit als Ärztlicher Direktor des Uniklinikums Salzburg die Auswirkungen des Wanderns auf eine Gruppe suizidgefährdeter Patienten. Im Rahmen einer klinischen Wanderstudie unternahmen diese während einer neunwöchigen Interventionsphase wöchentlich drei Wanderungen von je zwei Stunden Dauer mit 300 bis 500 Höhenmetern. Im Fokus der Studie stand dabei das Ausdauertraining bei einfacher Aktivität und mit gut steuerbarer Intensität, Überforderung galt es zu vermeiden. Als Mehrwert kommt hier zur Aktivität noch die Naturerfahrung, die man allein oder in der sozialen Gruppe erlebt. Das Resultat zeigte – bei weiterhin andauernder Unterstützung durch Pharmakotherapie und Psychotherapie – signifikante Verbesserungen: Das Wandern steigerte das Selbstwertgefühl ebenso wie den Faktor „erlebte Freude“ und reduzierte dabei den Grad der Depression sowie der Ängstlichkeit bedeutend. Fartacek stellte dabei neurobiologische Effekte fest: eine Verbesserung von Hirndurchblutung und Glukosestoffwechsel, eine Verbesserung der neuronalen Plastizität durch strukturelle Veränderungen in den Hirnarealen und eine vermehrte Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin. Bergsport wirke damit ebenso effektiv wie ein Antidepressivum, merkt der Mediziner an, weise dabei aber geringere Rückfallquoten auf als Antidepressiva. Daher empfiehlt er Outdoorsport besonders, auch um dem Risiko einer Burnout-Erkrankung vorzubeugen. Die Wirkung von Bergsport sei sogar „gleich effektiv wie eine kognitive Verhaltenstherapie bzw. eine psychotherapeutische Intervention“ und wirke stimmungsaufhellend bei Depression. Sein Fazit? Ist eine klare Empfehlung, die bestehenden Angebote alpiner Vereine zu nutzen.
Ab ins Grüne!
Zu vergleichbaren Forschungsergebnissen kommt die Untersuchung eines Teams von Salzburger und Innsbrucker Medizinern, welche ebenfalls auf dem Fachsymposium präsentiert wurde. Dafür befragten die Wissenschaftler 1536 Bergsportler und führten eine Feldstudie mit 47 Personen durch. Im Fokus: das Leben von Menschen in der Großstadt, bei zunehmendem Stress durch „Crowding“, die unter passiver Freizeitgestaltung, negativen Essgewohnheiten und Bewegungsarmut leiden. Dazu kommt noch das Phänomen einer zunehmenden Entfremdung von der Natur, im Fachjargon „Natur-Defizit-Syndrom“ genannt. Während der Steinzeitmensch noch 30 bis 40 Kilometer pro Tag zurücklegte, sind es beim „Büromenschen“ nur noch 400 bis 1600 Meter. Das Team untersuchte die Beziehung zwischen psychischer Gesundheit und körperlicher Aktivität in drei Szenarien: beim Bergwandern, auf dem Laufband oder bei sitzender Tätigkeit. Was zu erwarten war: Aktivität beeinflusst das Gesundheitsverhalten. Darüber hinaus erbrachte die Studie ein signifikantes Ergebnis: Schon eine einzelne Bergwanderung von drei Stunden bringt positive Veränderungen der psychischen Gesundheit mit sich. Insgesamt gesehen steigt beim Bergwandern die Stimmung am meisten an, auch die Gelassenheit nimmt zu, Angst und Energielosigkeit schwinden. Die Probanden vom Laufband zeigten eine in allen vier Punkten schwächere Ausprägung, ebenso jene Kandidaten der Kontrollsituation bei sitzender Tätigkeit. Bedeutet: Bergwandern bringt positive unmittelbare Veränderung der psychischen Gesundheit, wobei „outdoor“ deutlich bessere Effekte erzielt werden als „indoor“. Gerade bei depressiven Menschen wurden verstärkte stimmungsrelevante Bewegungseffekte in der grünen Natur festgestellt, die Stress reduzieren und auch langfristig vorbeugend gegen Depressionen wirken. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen US-amerikanische Wissenschaftler um G. N. Bratman im „PNAS Journal“ vom Juli 2015. Danach kann schon regelmäßiges Spazierengehen von 90 Minuten durch die Natur die Gefahr psychischer Erkrankungen drastisch senken. Ein Effekt, der sich interessanterweise nach 90-minütigem Gehen in der Stadt nicht einstellt.
Was ist eine Depression?
Die Frage „Was ist Gesundheit?“ beantwortete das Fachsymposium mit Abwesenheit von Krankheit. Regelmäßige körperliche Bewegung hilft beim Stressbewältigen, beim „Krafttanken“ und als präventive Maßnahme zur Erhaltung der Gesundheit – psychisch wie physisch. Dass gerade „sanftes“ Bergsteigen solch positive Effekte bewirkt, führt dazu, dass Wandern in der Prävention und Rehabilitation und Klettern in der Physiotherapie heute sogar „verschrieben“ werden (Quelle: DAV). Doch was ist das eigentlich, eine Depression? Als Messinstrument dient hier das Beck-Depressions-Inventar (BDI) mit eigenen Fragebögen wie der Beck Skala für Hoffnungslosigkeit (BHS) oder der Beck Skala für Suizidgedanken (BSS). Typisch für Erkrankte ist ein chronisches Stimmungstief und andauernder Pessimismus, Schlafstörungen, Grübeln und schwer zu durchbrechende Gedankenkreise, Mutlosigkeit, Trauer, Hoffnungs- und Antriebslosigkeit und Angst. „Die Ursachen für Depressionen sind vielfältig. Grundsätzlich trägt jeder Mensch das Risiko in sich, depressiv zu werden. Doch ob jemand erkrankt oder nicht, hängt von verschiedenen Einflüssen ab: Zum Beispiel von einer erblichen Veranlagung, körperlichen Faktoren oder auch vom persönlichen Lebensumfeld“ (Quelle: daserste).
Auch Profis sind betroffen
Dass auch Bergprofis nicht vor psychischen Erkrankungen gefeit sind, weiß Extremkletterer Alex Huber. Er ist Unterstützer des Krisendienstes Psychiatrie am kbo-Isar-Amper-Klinikum Atriumhaus in München. Huber litt selbst an einer Angststörung und befreite sich mithilfe einer Therapie. 2009 übernahm er als Schirmherr der Angst-Hilfe e. V. ein Pilotprojekt des Klinikums rechts der Isar. Dabei sollten kranke Menschen durch Hallen- Klettern die aufreibenden Langzeittherapien besser durchstehen. „Fast die Hälfte der psychisch Erkrankten brechen eine Langzeittherapie ab“, stellte Facharzt Werner Kissling vom Klinikum rechts der Isar fest. „Unser begleitendes Programm soll Spaß machen, denn Freude wirkt: Die Rückfallrate der […] depressiven Patienten konnten wir bei den ersten 200 Patienten um 70 Prozent senken.“ Damit ließen sich viele teure stationäre Klinikaufenthalte sparen.
Bouldertherapie gegen Depressionen
„Gerade Klettern und Bouldern hilft, abzuschalten und das Gedankenkreisen zu stoppen“, hat Katharina Luttenberger beobachtet. An sich selbst – wie an ihren Probanden. Die Diplom-Psychologin arbeitet in der Forschung am Uni-Klinikum Erlangen und untersuchte in einer eineinhalbjährigen Studie (www.studiekus.de) den Zusammenhang zwischen Klettern und Stimmung. Die Besonderheit: Während Ausdauersportarten wie Joggen oder Wandern eher auf gleichförmigen Bewegungen und sich wiederholenden motorischen Prozessen beruhen und auch im Standby-Modus oder „auf Autopilot“ funktionieren, erfordert das Klettern volle Konzentration und problemlösendes Denken in einem „kurzgriffigen“ Sicht- und Umfeld. Es zwingt den Akteur ins Handeln und in den Moment und erlaubt kein gedankliches Abschweifen. Mit ihren Kollegen Schopper und Först verglich Luttenberger parallel zwei Gruppen, eine aktive Bouldertherapiegruppe und eine passive Wartegruppe, die zuerst die vorhandenen Angebote des Gesundheitssystems nutzen durfte, aber nicht boulderte. „Bei der aktiven Bouldergruppe verbesserte sich die Symptomatik danach um einen Schweregrad der Depression, gemessen am BDI“, sagt Luttenberger, die persönlich wegen des Naturfaktors lieber am Fels als in der Halle klettert. „In der achtwöchigen Studie dürfen sich die Teilnehmer an leichten, machbaren Routen ausprobieren, es geht ganz klar aber nicht um Leistung. Teilgenommen haben ganz unterschiedliche Leute bis zu einem Body-Mass-Index (BMI) bis 35. Zusätzliche positive Effekte: Beim Bouldern macht man auch aufgrund kurzer Routen schnelle Fortschritte und es gibt einen Alltagstransfer. Derzeit ist die Studie die einzige randomisiert kontrollierte Studie zum Bouldern bei Depression, man weiß aber, dass Bewegung allgemein bei Depression hilfreich ist“, sagt Luttenberger. Wichtig war der Forscherin vor allem, dass sich die Teilnehmer dabei „nicht über Leistung oder Schwierigkeitsgrad der Route definieren, da eben jener Leistungsgedanke ein auslösendes Moment für eine Depression sein kann“. Sie erklärt: „Es gibt bei manchen diese Denke: Schaffe ich es, bin ich ok. Schaffe ich es nicht, habe ich versagt. Doch das ist in Summe ein Depressionsmuster“. Ist die heutige Leistungsgesellschaft also ein Nährboden für Depressionen, platt gefragt? Luttenberger sagt: „So einfach ist es nicht. Ein überhöhtes Leistungsdenken kann mit auslösend für Depressionen sein, aber nicht allein. Es gilt, immer auch die persönliche Disposition und den Lebenslauf mit zu betrachten“. Um die Ergebnisse ihrer Studie auszudifferenzieren, führt sie aktuell eine Folgestudie durch, bei der sie die Teilnehmer in drei Gruppen aufteilt: eine Bouldergruppe mit Psychotherapie, eine Bouldergruppe ohne Psychotherapie und eine Gruppe mit aktivierendem Bewegungsprogramm. Interessenten können sich auf der Studienhomepage informieren:www.kusstudie.de
„Selbstwirksamkeit ist eine wichtige Facette psychischer Gesundheit“
Der Südtiroler Pauli Trenkwalder ist Bergführer, Psychologe und Ausbilder beim DAV. Mit seinem Kollegen Jan Mersch bietet er Coachings unterwegs am Berg an. Franziska Horn hat mit ihm über den psychischen Benefit und das Suchtpotenzial des Bergsteigens gesprochen.
PT » Ich stamme aus Sterzing, Jahrgang 1975, bin in den Bergen groß geworden und war in der Familie und im Freundeskreis von Bergsteigern umgeben. Irgendwann wollte ich Bergführer werden und mit Menschen arbeiten. Während der Bergführer-Ausbildung hab ich begonnen, Psychologie in Innsbruck zu studieren. Zu meinen Schwerpunkten gehörten Notfallpsychologie, mentales Training und Sozialpsychologie. Martin Schwiersch, ebenfalls Psychologe und Bergsteiger, holte mich als Diplomand zu einer Forschungsgruppe der Sicherheitsforschung des DAV. Bei den verhaltenspsychologischen Untersuchungen lag der Fokus auf dem Menschen und Gruppen und wie sie am Berg Entscheidungen treffen. Hier traf ich auf Jan Mersch. Er ist heute mein Partner von „Mensch und Berge“.
FH » Wie bist Du auf die Idee gekommen, am Berg zu coachen?
PT » Die Idee ist zusammen mit Jan Mersch entstanden, da wir gemeinsame Seminare gaben und die Supervision des jeweils anderen übernahmen. Wir haben hier eine Nische gesehen und eine Nachfrage gedeckt. Es macht heute ein Drittel unserer Arbeit aus, neben der Arbeit im DAV-Lehrteam und dem klassischen Führen. Schwerpunkt unseres Coachings ist die psychologische Beratung, nicht die Therapie.
FH » Wer nimmt euer Angebot wahr – eher Frauen, vermutlich?
PT » Nein, es sind Männer wie Frauen, die Unterstützung suchen. Vom Alter her liegen die meisten zwischen 30 und gut 50 Jahren. Wie gesagt, wir arbeiten nicht therapeutisch, sondern im Bereich der Prophylaxe, der Gesundheitsförderung und der psychologischen Beratung. Auch die Gründe, warum die Menschen zu uns kommen, sind ganz unterschiedlich. Es kann um Fragen der Neuorientierung gehen, beruflich wie privat, um die Eigendiagnose Burnout, um Partnerschaft, Beruf und vor allem um Persönlichkeitsentwicklung.
FH » Wie wirkt sich der gemeinsame Bergtag auf die Gesundheit des Menschen aus?
PT » Jeder, der in die Berge geht, kennt das: Wer nach einem langen Tag beim Wandern, Bergsteigen oder Klettern müde zurückkommt, erlebt eine angenehme Zufriedenheit. Es tut einem einfach gut. Wer dann auch noch seine (Berg)- Ziele erreichen konnte, strahlt!
FH » Wie läuft ein solches Berg-Coaching mit dir ab?
PT » Ich bin Psychologe und Bergführer, eine wundervolle Kombination, um Menschen zu begleiten. Die Berge sind ein ergreifendes Ambiente, um sich geschützt zu öffnen und Veränderungen entgegenzugehen. Ich beginne mit einem Erstgespräch, um sich kennen zu lernen, um Erwartungen und das Thema festzulegen. Und um festzustellen, ob man persönlich „miteinander kann“. Darauf folgen unterwegs Gespräche, Methoden und vor allem aktives Zuhören. Zurück im Tal merkt man, dass man sich äußerlich und innerlich bewegt hat, weitergekommen ist. Zwar auf anstrengende, aber gute Weise! Ich betrachte die Berge nicht als Methode meiner psychologischen Coachingarbeit, sondern ich bin Bergmensch und gehe mit meinen Klienten dort hin.
FH » Wie würdest Du also den Coaching-Effekt beschreiben, in deinen Worten?
PT » Selbstwirksamkeit ist eine wichtige Facette psychischer Gesundheit und wird ausschließlich in konkreten Situationen und mit konkreten Menschen gewonnen, d. h. ich bin in der Lage, die mir wichtigen Dinge durch mein Eigenhandeln auch gegen Widerstände zu erreichen. Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und etwas zur Gemeinschaft beitragen kann. Mir ist „Embodiment“ wichtig, sprich: Erfahrungen werden immer auf der kognitiven, auf der emotionalen und auf der körperlichen Ebene verankert und einander gekoppelt. Mit Blick auf die dramatische Prognose der WHO nehmen stressbedingte Erkrankungen massiv zu. Hierzu möchte ich den Neurobiologen Gerald Hüther zitieren: „Zu viele Menschen leiden an Stress, weil sie über zu geringe Kompetenzen zur Stressbewältigung verfügen.“
FH » Wie stehst Du selbst – als hervorragender Kletterer – zur Suche oder Sucht nach Risiko?
PT » Als Psychologe finde ich die Bergsuchtdiskussion überbewertet! Wenn ich mal davon ausgehe, dass es sie gibt, muss ich feststellen, dass man mit einer solchen Sportsucht niemand anderem schadet. Hingegen ist der Missbrauch von Alkohol, Drogen usw. immer auch dadurch gekennzeichnet, dass das soziale Umfeld stark darunter leidet, und das ist wirklich ein großes Problem in unserer Gesellschaft. Als Bergführer bin ich nicht auf der Suche nach Risiko. Hanspeter Eisendle hat eine treffende Beschreibung des Bergführerberufs: „Abenteuervermeider“. Natürlich geht es in der Bergführerei um das Erreichen von Zielen, um Erlebnisse und das gemeinsame Unterwegssein. Dies alles ist ständig geprägt durch Entscheidungsfindung und Treffen von Entscheidungen unter Unsicherheit. Für mich eine Herausforderung und ein schöner Beruf; manchmal auch gefährlich. Und zuletzt muss ich für mich als Kletterer feststellen, dass sich mein Risikoverhalten verändert und gewandelt hat. Und zwar in dem Moment, als ich zum Familienvater wurde.
FH » Aus der Biografie der Höhenbergsteigerin Edurne Pasaban wissen wir, dass sie die letzten neun von 14 Achttausendern bestiegen hat, um ihre schwere Depression zu überwinden und eine Aufgabe zu haben. Der Berg als eine Art Therapie? Kann das funktionieren?
PT » Berge therapieren nicht. Sie sind einfach nur da. Edurne Pasaban beschreibt, was ihr gut tut und was aus ihrer Sicht hilfreich war. Man muss sicherlich nicht auf Achttausender steigen, um eine schwere Depression zu überwinden. Die Analogie „hoher Berg und depressive Erkrankung“ finde ich passend; beides ist erdrückend. Individuell angepasste, professionelle Hilfe in Form von Psychotherapie bis hin zur medizinischen Unterstützung ist sinnvoll. Als Gesundheitspsychologe unterstütze ich Menschen, dass es nicht so weit kommt.
FH » Ein Hörbeitrag des Bayerischen Rundfunks vom Mai 2016 hat den Aspekt „Suizid am Berg“ thematisiert und Zahlen genannt. Demnach liegt die Suizidrate unter Alpintoten bei überraschend hohen zehn Prozent.
PT » In jedem Jahr leidet in der Europäischen Region der WHO jeder 15. an einer schweren Depression. Nimmt man Angstzustände und sämtliche anderen Formen von Depression hinzu, sind fast 4 von 15 Menschen betroffen. Weiters beträgt die jährliche Suizidrate in der Europäischen Region 13,9 pro 100.000 Einwohnern. So sind zum Beispiel in Südtirol ein Suizid und drei versuchte Suizide pro Woche zu verzeichnen. Suizidprävention stellt für das Gesundheitswesen eine riesige Herausforderung dar. Der Fokus „Suizid am Berg“ ist somit ein sehr kleiner Teil des traurigen Problems.
FH » Was meinst du: Wirken Berge als ein „Antidepressivum“?
PT » Auf einem Coaching in den winterlichen Bergen sagte mir eine Klientin: „Wenn ich draußen in den Bergen unterwegs bin, dann geht mir einfach das Herz auf!“ Berge sind für meine Klienten positiv besetzt und genau das ist für mich hilfreich, wenn ich mit ihnen arbeite, um schwierige Themen in Angriff zu nehmen. Der Rahmen und Raum Berge ermöglicht es meinen Klienten, die Augen schweifen zu lassen, man muss nicht ständig in direktem (Augen-)Kontakt stehen, was ich als Erleichterung und Freiheit für meine Klienten empfinde. Wie schon erwähnt sind Berge für mich keine Methode, keine Therapeuten und auch kein Medikament, sondern Resonanzraum und ein wundervolles Ambiente für meine Arbeit. Auf die Frage, was für jeden Einzelnen wie wirkt, ist jeder frei, sich eine Antwort zu suchen.