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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Vortrag: Lawinensymposium 2025 „Erklären statt belehren – der Alpinunfall in den Sozialen Medien“

By Beitrag, Vortrag
Vortrag und Beitrag für das Lawinensymposium Graz 2025

Beim Lawinensymposium Graz 2025 habe ich gemeinsam mit Riki Daurer einen Vortrag zum Thema „Erklären statt belehren – der Alpinunfall in den Sozialen Medien“ gehalten. Der gesamte Beitrag und ein Link zum Tagungsband anbei. 

Beitrag & Vortrag: Pauli Trenkwalder, Riki Daurer

Warum die Fehlerkultur am Berg und im Netz so unterschiedlich ist – und was wir daraus lernen können

„Fehlerkultur ist nicht nur eine Frage des Lernens, sondern auch des Umgangs miteinander.“

Frühmorgens am Grat. Zwei Bergsteiger*innen steigen vorsichtig über festen Firn und griffigen Fels. Stirnlampen werfen tanzende Kegel in die Dunkelheit, der Wind ist kalt, der Himmel verspricht einen klaren Tag. Jeder Schritt ist durchdacht, jeder Griff bewusst. Es herrscht Ruhe – aber auch Konzentration, Verantwortung, Vertrauen. Und vor allem eines: Freiheit.Diese Momente am Berg bedeuten für viele mehr als nur Sport. Sie sind Ausdruck von Selbstbestimmung, von Lebensphilosophie. Entscheidungen sind nicht immer eindeutig – aber getragen von Erfahrung, Intuition, Absprache. Freiheit, Vertrauen, Verantwortung – das sind hier nicht bloß Worte, sondern gelebte Werte.Und dann passiert ein Unfall. Ein falscher Tritt, ein Steinschlag, eine Fehleinschätzung – oder einfach Pech. Die Seilschaft gerät in Not. Einer wird verletzt, der Rettungshubschrauber kommt, der Tag endet im Krankenhaus statt am Gipfel.

Wie vor kurzem an einem bekannten Ostalpengipfel: Zwei gut vorbereitete Alpinist*innen geraten in einem steilen Schneefeld ins Rutschen. Der Unfall geht glimpflich aus – doch die Geschichte macht im Netz die Runde. Keine 24 Stunden später: Dutzende Kommentare, Hunderte Likes, klare Urteile. „Die sollen das selber zahlen.“ – „Wer so was macht, gefährdet nicht nur sich, sondern auch andere.“ – „Unbelehrbar!“ – „Fahrlässig.“

Und während die beiden Bergsteiger*innen noch versuchen zu verstehen, was passiert ist, wird im digitalen Raum bereits geurteilt – noch lange bevor ein Gutachten erstellt ist und ein Gericht ein Urteil fällen wird. Plötzlich sind die Werte, die wir am Berg so hochhalten, wie weggeblasen. Aus Freiheit wird Kontrolle. Aus Vertrauen Misstrauen. Aus Verantwortung Schuldzuweisung.

Was passiert da mit uns? Warum fällt es uns im Netz so schwer, empathisch und lernbereit zu bleiben, wenn etwas schiefläuft?

Diese Überlegungen führen zu einer zentralen Frage im Umgang mit sozialen Medien: Können wir online wirklich aus den Fehlern anderer lernen? Oder brauchen wir dafür zuerst eine andere Haltung im Umgang mit Fehlern – online wie offline?

Die Realität sozialer Medien

Kehren wir zu dem oben geschilderten Unfall in den Ostalpen zurück, der innerhalb kürzester Zeit viele Darstellungen im Netz und zig-fache Kommentare ausgelöst hat. Gepostet wurde dieser Unfall von vielen: von alpinen Organisationen, die an der Rettung beteiligt waren, von einem Medium, das darüber berichtete, und auch von Privatpersonen – die diese Postings teilten und mit ihrem Kommentar und ihrer Bewertung versahen.

Wer den Post mit welcher Motivation erstellt, ist dabei sowohl dem Portal, auf dem das Posting veröffentlicht wird, als auch den lesenden User*innen egal. Beide – also Portal und User*innen – nehmen diesen Inhalt und verschaffen ihm im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten Reichweite. Das Portal durch seinen Algorithmus, die User*innen durch Kommentar, Likes, Emojis oder das reine Betrachten der Meldung. Dabei stoßen Welten aufeinander: die alpine Realität, zu der unvorhergesehene Ereignisse, schlechte Entscheidungen oder einfach Pech dazugehören, und eine gänzlich anders gelagerte – bzw. fehlende – Fehlerkultur in den sozialen Medien. In vielen Fällen kommt es dadurch zu einer – nicht immer beabsichtigten – Moralisierung und Verurteilung von Opfern bzw. deren Angehörigen sowie zur Verbreitung von ungewollten Botschaften.

Im Folgenden wird zum einen dargestellt, warum das Thema „Alpinunfälle“ bei User*innen und Leser*innen so bliebt ist und nicht nur gern gelesen, sondern auch kommentiert bzw. emotionalisiert wird, und wie ambivalente Narrative und Motive dies befördern. Zum anderen wird aufgezeigt, wie die Mechanismen der Portale diese Dynamik zusätzlich begünstigen.

Ambivalente Narrative befördern das Kommentieren von Unfällen

Motivation hinter dem Post vs. Botschaft der Nachricht
Autor*in vs. Community

Ein vermeintlich gut gemeinter Unfallpost (Motivation: Damit andere daraus lernen) wird schnell zum Auslöser eines Shitstorms gegen Opfer oder deren Angehörige. Denn mit dem Posten eines Unfallberichts lädt man die Community zur Bewertung ein, die wiederum die finale Botschaft kreiert – durch Folgekommunikation. Der vermeintliche Autor wird seiner Position enthoben und die ursprünglichen Leser*innen des Posts werden durch ihre Kommentare zum neuen Autor, dem Produser, und verleihen dem Post eine neue, oft unerwünschte Bedeutung.

Umgekehrt kann ein bewusst medial inszenierter Unfallbeitrag bei den Leser*innen als „gut gemeinte“, zuverlässige Information ankommen – dahinter steckt aber das harte Kalkül einer Marketing-Rechnung: mehr Klicks, mehr Werbeeinnahmen.

„Die Geister, die wir riefen“ vs. „Die Bergsteiger*innen, die wir nicht wollen“
Versicherung vs. Vollkaskomentalität

Viele von uns leben vom „alpinen“ Tourismus – in direkter oder indirekter Weise. Wir befördern den Bergtourismus durch die Vermarktung der Alpen – zuzüglich notwendiger Versicherung, Unterkünften und Touren. Auch in den sozialen Medien.

Doch der Unfall scheint in diesem Zusammenhang keinen Platz zu haben und die Verunfallten werden zu Unerwünschten, zu den anderen. Sie symbolisieren die Seite der Berge, die in den Hochglanzprospekten keinen Platz hat – die gefährliche, risikobehaftete, die praktischen allen alpinen Unternehmungen innewohnt. Und so entsteht die skurrile Situation, dass auf der einen Seite der Abschluss von Versicherungen für Bergungskosten angepriesen wird und auf der anderen Seite werden die vernadert, die diese auch beanspruchen.

Laien vs. Expert*innen
Wir & die anderen

Die perfekte Pulverabfahrt bei Lawinenwarnstufe 3, der Aufruf zum „Spaß im Schnee“ steht neben der Warnung, bitte an demselben Tag ja nicht ins freie Gelände zu gehen. Die einen (Spaß) sind Expert*innen, alle anderen – gehen sie doch raus und es passiert etwas – anscheinend fahrlässig unterwegs.

Fahrlässigkeit vs. Schicksalsschlag
Rettung vs. Gefahr

Doch wer entscheidet, ob fahrlässig gehandelt wurde? Leider sehr oft und sehr schnell die Community. Dazu eingeladen durch die sozial-mediale Aufbereitung von Unfällen. Für mehr Reaktionen werden diese – leider zunehmend auch von traditionellen Medien – mit für den Vorfall irrelevanten Informationen wie die Nationalität der Betroffenen versehen. Passiert derselbe Unfall hingegen Einheimischen oder Bergführer*innen, wird in der Berichterstattung eher von einer Naturgewalt oder einem unvorhersehbaren Ereignis gesprochen. Für bestimmte Communitys ist das ein gefundenes Fressen – es bestätigt ihr Denken innerhalb der eigenen Filterblase.

In dieser Argumentationskette findet man auch immer Kommentare, die auf die vermeintliche Gefährdung der Retter*innen hinweisen, die durch die Fahrlässigkeit anderer Personen entsteht. Doch Rettungsorganisationen distanzieren sich klar: Auch wenn ein Restrisiko besteht, hat die Sicherheit der Einsatzkräfte selbstverständlich oberste Priorität.

Sensibilisieren vs. Rage Bait
Unfallbericht vs. Lösen des Alpinkrimis

Ein Einsatz im Mai 2025: Ein Verunfallter wird am Klettersteig Donnerkogel-Himmelsleiter gerettet. Während die ARA Flugrettung über den Einsatz an sich berichtet, nüchtern und knapp, und lediglich einen Kommentar dafür erhält, wird an andere(n) Stellen derselbe Unfall mit Informationen zur Nationalität der verunfallten Person und ersten Beurteilungen gepostet. Die Ausbeute: 183 meist negative Kommentare.

Während die einen, oft Bergrettungsorganisationen, Unfälle für ihre Öffentlichkeitsarbeit posten, die Motivation meist klar und die Kommunikationsregeln transparent sind, ergänzen andere den Titel um reißerische Details. Das Ziel: mehr Klicks.

Die Konsequenzen aus diesen unterschiedlichen Beweggründen sind jedoch dieselben: Man lädt die Community zum Mitdiskutieren und Lösen eines „Alpinkrimis“ ein und geriert sich somit als Wächter*in, der*die über die Einhaltung der Moral beim Bergsteigen wacht.

Mutmaßungen vs. Faktenwissen

Mutmaßungen sind von Fakten nicht immer ad hoc von jedem zu unterscheiden – gerade in den sozialen Medien. Und so werden gerne den sofort geposteten Unfallberichten und Beurteilungen geglaubt. Dass eine professionelle Aufarbeitung und Bewertung von Alpinunfälle Zeit braucht, wissen viele nicht.

Fremdzweck vs. Eigennutzen

Den gerne genannten altruistische Ansatz, einen Unfall zu posten, damit andere lernen, soll kritisch gesehen werden – v. a. bei Privatpersonen. Poste ich einen Unfall wirklich nur, damit andere etwas daraus lernen können? Oder eignet sich ein Unfall nicht hervorragend, um mich selbst als vermeintliche*n Experten*in zu positionieren? Auf Kosten anderer.

Einen Denkanstoß dazu bietet die Studie zu „Positional Preferences“ von Andrea Mannberg, die sich zwar primär darauf bezieht, wie soziale Vergleiche das Risikoverhalten von Skitourengehern im freien Gelände beeinflussen, aber gut auf die hier dargestellte Thematik übertragbar ist. Mannberg beschreibt die Tendenz von Individuen, ihren eigenen Status oder Nutzen im Vergleich zu anderen zu bewerten. Der Alpinunfall in den sozialen Medien eignet sich dafür hervorragend – ich bin besser, weil mir passiert das nicht.

Vermeintliche Anonymität vs. juristische Verantwortung

Vermeintlich anonym und geschützt wähnt sich manche*r User*in unter dem Schutzmantel der Community. So überschreitet man fröhlich und öffentlich ethisch und juristisch Grenzen mit Posts, Likes oder Kommentaren. Dass man dabei aber juristischer und natürlich auch journalistischer Verantwortung unterliegt, ist man sich hier nicht bewusst. Und so war es für viele überraschend, als 2024 das erste Mal ein Teilnehmer eines Shitstorms verurteilt wurde (mehr dazu https://alpin.online/strafrechtliche-grenzen-bei-einem-shitstorm/).

Die sozialen Medien verstärken diese ambivalenten Narrative

Ambivalente Bilder wirken im Netz besonders stark auf die Dynamik von Kommentaren, weil sie Interpretationsspielräume öffnen und emotionale Reaktionen aktivieren. Das beeinflusst, wie Menschen reagieren, kommentieren und urteilen.

All diese ambivalenten Narrative und die daraus resultierende Folgekommunikation drehen die sozial-mediale Entrüstungs-Spirale weiter bzw. erlauben der Community, die Spirale weiterzudrehen. Folgende Wirkmechanismen der sozialen Medien verstärken dies noch zusätzlich:

  • Soziale Medien sind Wirtschaftsunternehmen: Alle Portale haben eine Zielsetzung: möglichst hohe Nutzung und Interaktion – damit verdienen sie Geld. Algorithmen verstärken diesen Mechanismus.
  • Portale übernehmen keine journalistische Verantwortung: Ein Portal ist rechtlich kein Medieninhaber. Es zählt Interaktion statt Einordnung, Emotionalisierung statt Kontextualisierung.
  • Kollektives Gatekeeping: Die Community übernimmt die redaktionelle Auswahl – Likes, Shares und Kommentare bestimmen Sichtbarkeit; Algorithmen verstärken.
  • Aufbau der Posts (Visual Framing): Bilder dominieren die Wahrnehmung; die Caption wird oft nur gekürzt wahrgenommen.
  • Kommentar-Dominanz & De-Kontextualisierung: Folgekommunikation wird wichtiger als der Ursprungspost; geteilte Inhalte verändern im neuen Kontext ihre Bedeutung.
  • Filterblasen & Confirmation Bias: Menschen suchen Bestätigung ihrer Überzeugungen; Algorithmen befeuern dies.
  • Illusory Truth Effect: Wiederholungen wirken wahrer – algorithmische Wiederholung verstärkt vermeintliche Fakten.
  • Negativity Bias: Negative Inhalte erzeugen stärkere Reaktionen und damit mehr Reichweite – unabhängig von Qualität.
  • Bandwagon-Effekt & Social Proof: Mehrheitsmeinungen gelten als „richtig“; Reaktionen werden zum Relevanzmaßstab.
  • First-Mover Advantage & Sofortismus: Wer zuerst postet, gewinnt Sichtbarkeit – Qualität zweitrangig.
  • Quantität vor Qualität: Interaktionen zählen mehr als fachliche Tiefe.

Die Konsequenzen im analogen Leben

Aus den genannten ambivalenten Narrativen, bestärkt durch Algorithmen, werden im Netz oft unvollständige oder unwahre Informationen übermittelt. Diese lassen Leser*innen Spielraum zu bewerten und laden zum Kommentieren ein.

Verunfallte oder deren Angehörige werden be- und verurteilt – ohne jegliche Grundlage. User*innen überschreiten ethische und juristische Grenzen mit Sätzen, die man Betroffenen wahrscheinlich so nie direkt sagen würde. Sie werden an den Pranger gestellt und beschuldigt – nicht nur sich selbst, sondern auch andere zu gefährden. Dieses Verhalten hat nicht nur belastenden Auswirkungen auf die Betroffenen, sondern manchmal sogar juristische Konsequenzen.

„Jeder, der sich an einem Shitstorm beteiligt, haftet dem Opfer gegenüber persönlich – unabhängig davon, wer den Post als Erster ins Netz gestellt hat.“ (…)

„Strafrechtliche Grenzen bei Shitstorms – OGH-Urteil, Haftung & rechtliche Risiken beim Teilen – Interview mit Dr. Kerschbaumer“ auf alpin.online

„[D]ie Menschen sind sich gar nicht darüber bewusst, dass sie juristisch als Einzelperson dastehen und verstecken sich einfach hinter der Masse.“

ebd.

Eine gute Idee: Sich der eigenen Motive bewusst werden

Bevor ein Post zu einem Unfall abgesetzt wird oder ein entsprechender Post kommentiert wird, ist es eine gute Idee, sich über die eigenen Motive klarzuwerden. Was will man damit erreichen und kann man das gewünschte Ziel mit einem Post überhaupt erreichen? Besteht die Gefahr unerwünschter Botschaften, Folgekommunikation oder juristischer Konsequenzen? Dies gilt für Vereine und Organisationen gleichermaßen wie für traditionelle Medien und private User*innen.

Wenn man postet, sollte man auf Vollständigkeit, Wahrheit und Relevanz achten. Je vollständiger und eindeutig zuordenbar Informationen sind und je weniger Spielraum sie dem Leser und der Community für Mutmaßungen lassen, desto seltener wird auch eine unerwünschte Folgekommunikation stattfinden.

Ein Faktencheck hat somit oberste Priorität – online gestellt wird nur, was auch zu hundert Prozent verifiziert ist. Sind zum Zeitpunkt der Berichterstattung noch nicht alle Fakten gesichert, können die Leser*innen darüber informiert werden – oder man sieht davon ab, das Posting zu diesem Zeitpunkt abzusetzen.

Hierzu gehört auch die Transparenz hinsichtlich der Motivation des Postens. Denn auch in diesem Punkt kann fehlende Information zu falschen Mutmaßungen und Anschuldigungen führen.

All dies kann in einem entsprechenden Entscheidungsbaum definiert werden – ein Modell dazu findet man in dem Beitrag „Der Alpinunfall in den sozialen Medien“ in analyse:berg, online nachzulesen unter: https://alpinesicherheit.at/alpinunfall-soziale-medien/

„Wir merken aber, dass soziale Medien eine gewisse Rolle spielen. Heute wird jeder, der mit Sandalen am Klettersteig unterwegs ist, der Gefahr erliegen, dass er gefilmt wird und das Video viral geht.“

Markus Thaler (Anästhesist & Flugrettungsarzt), analyse:berg Sommer 2024

Psychologische Betrachtungen

Zur Orientierung: zurück zum inneren Wertekompass, der für so viele Bergsteiger*innen gilt:

Freiheit / Unabhängigkeit

Für viele ist das Bergsteigen ein Gegenpol zum Alltag, zur Taktung, zu Regeln und Konventionen. Am Berg sind sie selbstbestimmt, weg vom Lärm, weg vom System.

Typische Aussagen:

  • „Da oben bestimme ich selbst.“
  • „Niemand schreibt mir vor, welchen Weg ich gehen muss.“
  • „Freiheit ist für mich, wenn ich mit Ski auf einen Gipfel gehe.“

Psychologisch betrachtet: Das Bedürfnis nach Autonomie ist ein Grundbedürfnis (Deci & Ryan), das sich beim Bergsteigen sehr direkt erfüllt.

Vertrauen / Verlässlichkeit (vor allem im Team)

In Seilschaften zählt, dass man sich aufeinander verlassen kann. Vertrauen in den* Partner*Partnerin, in das Material, in den eigenen Körper.

Typische Aussagen:

  • „Ich gehe nur mit Leuten, denen ich wirklich vertraue.“
  • „Am Berg zeigt sich, wie jemand wirklich tickt.“
  • „Wir haben uns wortlos verstanden, das ist Gold wert.“

Psychologisch betrachtet: Vertrauen ist ein zentraler Pfeiler sozialer Sicherheit – und in hochriskanten Umgebungen überlebenswichtig. Außerdem stärkt Vertrauen das Kohärenzgefühl, also das tiefe Vertrauen, dass das Leben einen Sinn hat, dass Herausforderungen verstehbar sind und dass man ihnen gewachsen ist (Antonovsky). Dies ist bei Bergmenschen stark ausgeprägt.

Verantwortung

Verantwortung für sich selbst, für andere, für die Natur. Viele Bergsteiger*innen tragen dieses Verantwortungsbewusstsein sehr bewusst – auch in der Abwägung von Risiko.

Typische Aussagen:

  • „Ich entscheide selbst, aber ich trage auch die Konsequenzen.“
  • „Ich will niemanden gefährden.“
  • „Es geht nicht nur um den Gipfel, sondern auch ums Wieder-Runterkommen.“

Psychologisch betrachtet: Hier wirkt das Konzept der Selbstwirksamkeit (Bandura) mit – also das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Herausforderungen aktiv zu gestalten. Verantwortung zu übernehmen gibt Sinn und stärkt das Selbstbild.

Natürlich könnte man noch andere starke Werte nennen – z. B. Erlebnis, Naturverbundenheit, Demut, Grenzerfahrung oder Gemeinschaft – je nach Subgruppe. Aber Freiheit, Vertrauen und Verantwortung bilden für mich die solide Basis.

Die Werte, die Menschen am Berg als grundlegend erleben, scheinen im digitalen Raum plötzlich zu verschwinden oder sogar ins Gegenteil verkehrt zu werden:

Freiheit wird ersetzt durch Urteil / Kontrolle

Am Berg bedeutet Freiheit: Ich entscheide selbst, ich gehe meinen Weg. Online jedoch – besonders nach Unfällen – kippt das oft in: „Wie konnte man nur so etwas tun?“ „Selbst schuld – bei Lawinenwarnstufe 4 geht man halt nicht raus.“

Was passiert? Die Freiheit des*der Einzelnen wird im Nachhinein kollektiv bewertet. Es entsteht ein Kontrollreflex: Menschen wollen Risiko rationalisieren, kategorisieren, um sich selbst sicherer zu fühlen. Psychologisch ist das eine Schutzstrategie gegen das Gefühl von Kontrollverlust – nach dem Motto: Wenn ich weiß, was der*die falsch gemacht hat, kann mir das nicht passieren.

Vertrauen wird ersetzt durch Misstrauen / Schuldzuweisung

Im Gelände ist Vertrauen zentral – in den*die Partner*in, in Entscheidungen, in gemeinsame Verantwortung.

Online: „Hat er seine Partnerin da reingezogen?“ „Wurde da überhaupt ordentlich geplant?“

Was passiert? Der Vertrauensraum „Seilschaft“ wird durch einen öffentlichen Gerichtssaal ersetzt. Besonders tragisch: Der Unfall zerstört nicht nur Leben, sondern oft auch nachträglich Beziehungen durch öffentliches Misstrauen. Psychologisch gesprochen: In der Anonymität der Kommentarspalten fehlt die soziale Einbettung, es dominiert das Bedürfnis nach kognitiver Kohärenz: Jemand muss schuld sein.

Verantwortung wird ersetzt durch Schuld / Moralisierung

Am Berg heißt Verantwortung: Ich bin mir der Risiken bewusst und trage die Konsequenzen.

Online wird daraus oft: „Völlig verantwortungslos, bei dem Wetter rauszugehen!“ „Solche Leute gefährden auch die Bergrettung!“

Was passiert? Es entsteht eine Moralisierung von Risiko. Verantwortung – die am Berg hoch geschätzt wird – wird im digitalen Raum zum Vorwurf. Der Unterschied ist subtil, aber tiefgreifend: Verantwortung ist aktiv, selbstbewusst, bewusst getragen. Schuld ist passiv, rückwirkend, beschämend.

Warum diese Umkehr?

  1. Emotionale Entlastung: Menschen wollen sich nach einem Unfall abgrenzen – emotional, moralisch, rational. „Ich bin anders, ich würde so was nicht tun.“ Das gibt Sicherheit, aber kostet Empathie.
  2. Digitale Disinhibition (Hemmungslosigkeit im Netz): Online fehlt oft der soziale Korrektiv-Rahmen. Der Blickkontakt, das Mitfühlen, die Zwischentöne fehlen. Das befeuert Urteile.
  3. Kognitive Vereinfachung komplexer Realität: Unfälle sind meist Ergebnis vieler Faktoren. Online will man schnelle Erklärungen, einfache Schuldige, klare Narrative.

Warum wir so schnell urteilen

Aus psychologischer Sicht ist das Verständnis für Fehler alles andere als trivial. Wer andere belehrt, stellt sich über sie. Damit verletzt er oft ein zentrales menschliches Grundbedürfnis: das nach Autonomie. In der Selbstbestimmungstheorie der US-Psychologen Edward Deci und Richard Ryan gilt Autonomie als eine der drei Grundvoraussetzungen für intrinsisch motiviertes Lernen. Wird dieses Bedürfnis untergraben, etwa durch bevormundende oder überlegene Kommunikation, reagieren Menschen häufig mit innerem Widerstand. Selbst gut gemeinte Hinweise werden dann abgelehnt – nicht, weil sie inhaltlich falsch sind, sondern weil sie als Angriff auf die eigene Entscheidungsfreiheit empfunden werden. Das erzeugt Hierarchien: „Ich weiß es besser als du.“ Beim Gegenüber löst das oft Scham, Trotz oder Abwehr aus. In der Psychologie spricht man hier vom sogenannten Reaktanz-Effekt: Menschen reagieren mit innerem Widerstand, wenn sie sich bevormundet fühlen – selbst dann, wenn der Rat eigentlich sinnvoll wäre.

Ein typischer Satz wie „Bei Lawinenwarnstufe 3 geht man dort halt nicht rauf“ mag sachlich korrekt sein. Aber er blendet aus, dass solche Entscheidungen in Echtzeit, mit unvollständigen Informationen, unter Druck oder in komplexen Dynamiken getroffen werden. Im Nachhinein zu urteilen ist leicht – hilfreich ist es selten.

Belehrung grenzt aus – Erklären öffnet Dialog

Wenn wir möchten, dass Menschen aus Fehlern lernen, brauchen wir eine andere Haltung. Eine, die erklärt, statt zu belehren.

Erklären bedeutet: Wir begegnen uns auf Augenhöhe. Statt zu fragen „Warum haben Sie das gemacht?“, könnten wir fragen: „Welche Faktoren könnten hier eine Rolle gespielt haben?“

Ein Beispiel:

  • Belehrend: „Wer bei Stufe 3 diesen Hang einspurt, ist selbst schuld.“
  • Erklärend: „Viele Unfälle passieren bei Stufe 3, weil die Bedingungen trügerisch sind. Wie kann man das besser einschätzen?“

So entsteht ein Lernraum. Menschen, die einen Fehler gemacht haben, wissen das oft selbst. Doch genau in diesem Moment sind sie besonders verletzlich. Scham- und Schuldgefühle können, wie die US-amerikanische Forscherin Brené Brown zeigt, das Lernen blockieren. Wenn sich jemand beschämt oder moralisch entwertet fühlt, schließt sich oft der innere Zugang zur Reflexion. Deshalb brauchen wir sogenannte „sichere Lernräume“ – Umgebungen, in denen Fehler nicht mit Bloßstellung, sondern mit Verständnis beantwortet werden. Nur so entsteht die Offenheit, aus Erlebtem tatsächlich etwas mitzunehmen. Die zentrale Frage ist nicht: Wer ist schuld? Sondern: Was können wir alle daraus mitnehmen?

Digitale Dynamiken: Wenn aus Verantwortung Schuld wird

In sozialen Netzwerken zeigt sich ein besonderer Mechanismus: Psychologisch betrachtet spricht man vom sogenannten Digital Disinhibition Effect (John Suler). Er beschreibt die Enthemmung, die viele Menschen in digitalen Räumen erleben. Ohne Blickkontakt, ohne unmittelbare Rückmeldung durch Mimik oder Körpersprache und oft anonym, verlieren viele die natürlichen sozialen Filter. Kommentare werden härter, Zuschreibungen extremer, Urteile schneller. Die fehlende soziale Nähe senkt die Schwelle für Moralisierung und öffentliche Anklage – gerade dann, wenn ein Thema emotional aufgeladen ist wie ein Bergunfall. Die Kommunikation verändert sich. Aus Verantwortung wird Schuld, aus Vertrauen Misstrauen, aus Freiheit wird das Nachrechnen von Fehlern.

Online-Kommentare sind schnell, hart, urteilsfreudig. Die sozialen Korrektive, die wir am Berg intuitiv beachten – Respekt, Zwischentöne, das gemeinsame Risiko – fehlen in der Anonymität des Netzes. Die Folge: Statt kollektivem Lernen entsteht eine Tribunalkultur. Besonders tragisch ist das für jene, die betroffen sind: Angehörige, Kamerad*innen, Retter*innen. Eine kritische Reflexion wird so unmöglich gemacht.

Fehlerkultur als eine Frage der Haltung

Fehlerkultur beginnt nicht mit Fakten, sondern mit Haltung. Denn Lernen geschieht nur dort, wo psychologische Sicherheit besteht – ein Konzept, das von der Organisationspsychologin Amy Edmondson geprägt wurde. Es beschreibt ein Klima, in dem Menschen sich trauen, Fragen zu stellen, Zweifel zu äußern und auch Fehler einzugestehen, ohne negative soziale Konsequenzen befürchten zu müssen. Gerade in risikobehafteten Kontexten wie dem Bergsport ist diese Sicherheit zentral: Nur wer sich sicher fühlt, reflektiert ehrlich und lernt nachhaltig.

Wenn wir als Bergcommunity – egal ob als Expert*innen, Autor*innen oder Kommentierende – möchten, dass aus Unfällen gelernt wird, dann brauchen wir eine Sprache, die erläutert statt bloßzustellen. Eine Kommunikation, die fragt statt urteilt. Eine Fehlerkultur, die die Würde der Beteiligten wahrt und gleichzeitig das Lernen fördert.

Denn: Wer belehrt, schafft Distanz. Wer erklärt, schafft Verständnis. Und nur wer versteht, kann lernen.

„Soziale Medien sind wie ein überdimensionierter Stammtisch, wo jeder über alles erzählt und alle zuhören. Unterschied ist die fehlende soziale Kontrolle durch direkte Interaktion.“

Warum wir das gemeinsam schreiben

Wir – Riki Daurer und Pauli Trenkwalder – beschäftigen uns beide seit Jahren mit dem, was am Berg passiert. Riki aus der Perspektive der Medien und digitalen Kommunikation, Pauli als Psychologe und Bergführer. Was uns verbindet, ist nicht nur „das Draußensein“, sondern auch die gemeinsame Irritation darüber, wie im Netz über Bergunfälle gesprochen wird. Schnell wird geurteilt, bewertet, moralisiert – oft ohne Kontext, dafür mit viel Meinung. Manche Kommentare sind schwer auszuhalten.

Gerade deshalb finden wir unsere Zusammenarbeit bereichernd. Wir bringen unterschiedliche Zugänge ein, fragen einander, ordnen gemeinsam ein und unterstützen uns darin, digitale Dynamiken und Motivationen besser zu verstehen. Und wir wollen verbinden – Themen, Professionen und Expertisen: Pauli ist Bergführer und somit professioneller Alpinist, Riki Hobby-Bergsteigerin – was eigentlich egal ist, nur im Falle eines Unfalls doch auch zu unterschiedlichen Bewertungen führt. Riki beschäftigt sich hauptberufliche mit digitalen Medien, mit technischen und operativen Abläufen und Online-Phänomenen. Pauli ist als Psychologe primär analog unterwegs. Für Phänomene, die im Netz oft den sozialen Medien als Einzigartigkeit oder Merkmal zugeordnet wird, findet Pauli das Pendant in der Allgemeinen Psychologie.

Diese Zusammenarbeit hat sich auch in der „Shitstorm Agency – Agentur für Fehler- & Kommunikationskultur im Netz“ verdichtet. Ein Ort, an dem wir versuchen, das laute Netzverhalten verstehbar zu machen – ohne selbst laut zu werden.

Und wenn’s zu viel wird? Dann gehen wir raus. In die Berge. Dorthin, wo Respekt und Verantwortung mehr zählen als Klicks. Wir kultivieren unsere eigene Resilienz – nicht online, sondern im Gelände.

Ach ja – wir sind gerne auf sozialen Netzwerken aktiv. Wir posten, wir kommentieren. Und stellen uns immer wieder die Frage: Was tut mir gut? Und was macht mein Kommentar mit anderen?

zur Website des Lawinensymposiums zum Tagungsband
| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Felsenfest. Tagesspiegel 2024

By Beitrag
Beitrag erschienen in Tagesspiegel.de, 29.04.2024

Berge nützen dem menschlichen Geist und fördern die innere Einkehr. Aber muss man deshalb gleich mit einem Psychologen in Abgründe schauen? Unsere Autorin hat ein Angebot des Kastelruther Hotels Schgaguler getestet.

Text: Esther Kogelboom

Meine Couch: der Berg, so lautet Pauli Trenkwalders Parole. Gerade ist aber die Couch seine Couch, der Psychologe und Bergführer sitzt auf einem lodengrünen Outline-Sofa von Muuto.

In der Bar des Schgaguler Hotels bleibt die Zeit stehen. Die scharfkantigen Eiswürfel aus der japanischen Hoshizaki-Maschine schmelzen extra langsam im Aperitivo, während draußen Nebelgardinen die Umrisse des Schlern – Massivs verhüllen.

Trenkwalder spricht mit der kleinen Reisegruppe über die Konsistenztheorie nach Grawe, ein Modell, das die psychologischen Grundbedürfnisse des Menschen beschreibt, und die Maslowsche Bedürfnispyramide. Er tippt sich schließlich an die Stirn: „Hier vorn im Hirnkaschtl, da ist der präfrontale Cortex, zuständig für Kontrolle und Orientierung.“

Hirnkaschtl-Ferien im Südtiroler „Kaschtelruth“, wie die Einheimischen ihr Bergdorf nennen. Das Schgaguler, gelenkt von vier Geschwistern in zweiter Generation, umgebaut von Architekt Peter Pichler, strahlt ohne Geranien und Herrgottswinkel. In unverblümter Klarheit und Konzentration ragt es, hellgrau wie Dolomit, zwischen den verschachtelten traditionellen Bauten des Dorfes heraus, höher ist nur der frei stehende, klassizistische Turm der Pfarrkirche St. Peter und Paul.

Das Angebot von Trenkwalder, zusammen mit vier Tagen Halbpension im Design- und Dinnerhimmel Schgaguler: „Grenzen erfahren – Grenzen erweitern“ in der Kleingruppe. Damit meint er nicht, eine neue Gin-Sorte zu probieren.

Früh am Morgen, Zanser Alm. Der präfrontale Cortex der Kletter- Anfängerin meldet: Das ist unmöglich. Steck den Helm wieder in den Rucksack, steig aus dem Klettergurt, lös’ die Karabiner und trinke den zweiten Cappuccino. Aber da ist etwas, das stärker ist. Die Arme sind es nicht. Vielleicht der Ehrgeiz, sich vor der Reisegruppe nicht zum Gespött zu machen, oder gar Abenteuerlust? Das Herz schlägt bis zum Kinn, acht Meter über dem schneebedeckten Boden an einer Felswand. Drüben hat vor kurzem eine Lawine ein Waldstück einfach umgeknickt. Die Finger krallen sich schwitzig in eine Rinne, die Füße sind irgendwo, wo es sich falsch anfühlt.

Der kleine Reinhold war schon mit fünf Jahren oben

Trenkwalder – Erstbegehungen großer Wände in Madagaskar, Mali, Namibia, Venezuela usw., leidenschaftlicher Kritiker der Sächsischen Schweiz – spricht von unten: „Den rechten Fuß dorthin, wo jetzt der linke ist!“ – „Aber da ist schon mein Linker.“ – „Ich kann jederzeit hochkommen!“ Alles, nur das nicht.

Die Zanser Alm liegt unterhalb der spektakulären Geislerspitzen am Ende des Villnöss-Tals. Wanderfreundinnen wissen, dass hier der kleine Reinhold im Alter von fünf Jahren, zusammen mit seinem Bruder, vom Vater auf den Hauptgipfel geführt wurde: den Sass Rigais, 3.025 m. Der kleine Reinhold hat diesen Zehn-Meter- Brocken, der Teil eines Klettergartens ist, wahrscheinlich schon erklommen, bevor er laufen konnte. Erkenntnis an der Wand: Irgendwie geht es weiter. Eine Rinne im porösen Dolomitgestein, eine schmale Ritze, eine Unregelmäßigkeit in den Steinstapeln. Fingerkuppen schwitzen, färben sich dunkelrot. Mal schauen, wo ist eigentlich das Ziel? Der Blick fällt versehentlich nach unten – ungesichert.
Kniescheiben vibrieren.

Der rechte Fuß steht über Hüfthöhe, dieses Bein müsste man langsam mal kräftig strecken, um an den nächsten Griff zu kommen. Der Moment zwischen Durchdrücken und nächster-Griff-noch-nicht-gefunden ist sehr lang. Man tastet vorsichtig nach Halt, aber da ist nur glatter Stein. Blut rauscht in den Ohren. Wo ist der Musculus vastus lateralis, wenn man ihn braucht?

Trenkwalder mag keine Corporate-Selbsterfahrungstrips, schon gar kein mittleres Management. Auch die Sprache des Kapitalismus und mit ihr die gesamte alpine Höher-Weiter-Gipfel-Teambuilding-Metaphorik scheint ihm fremd. Worum es ihm aber schon geht, ist Vertrauen. Es ist leicht, ihm das zu schenken. Seine Klientinnen und Klienten kommen mit Lebensfragen zu ihm, die sich besser in Bewegung erforschen lassen als in einer Praxis. Der Berg selbst trage zur Problemlösung relativ wenig bei, sei nur ein „Resonanzraum“.

Und Trenkwalder ist generell zugeneigt, das kann, wer will, an seiner Körperhaltung ablesen. Ein bisschen vorgebeugt, Schultern und Arme wie allzeit bereit zur schnellen Umarmung von Gestein und Mensch. Manchmal bleiben die Lach- und Sonnenfalten unter dem Schirm des Basecaps mit Sponsoren-Logo verborgen. Denn es ist zum Glück nicht so, dass sein Einfühlungsvermögen Bergführer-Flachwitzen grundsätzlich im Wege steht.

Oben. Geschafft. Sauerstoff bis in die Haarspitzen. Wo kommt nun dieses Lachen her? Ist doch gar nicht so lustig, hier mit bebenden Beinen auf einem Felsen zu hocken – und wieder hinunterzumüssen. „Klären wir später, woher das Lachen kommt“, meint Trenkwalder geduldig und versucht, mich am Seil hinabzulassen. „Ich hab schon eine Idee.“

Erstmal gehen wir den Adolf-Munkel-Weg zur Gschnagenhardt-Alm der Familie Profanter, an diesem außergewöhnlich kühlen Junitag fast allein. Man kann sich als Teil eines 1000-Teile-Puzzles fühlen. Schleierwolken wie aus Zuckerwatte kleben an den Nordwänden der Geislergruppe, zerreißen träge, bilden neue Formationen. In den Schlagschatten der Mittagssonne wirkt der Fels noch härter.

Trenkwalder hebt einen Stein auf und zeigt die Abdrücke einer Muschel – ein Andenken daran, wie die Entstehung der Dolomiten vor 280 Millionen Jahren begann: als tropisches Meer. Aber weil die Berge, wie Goethe fand, stumme Meister sind, die schweigsame Schüler machen, wird auch nicht mehr gequatscht als notwendig. Man könnte natürlich reden, aber man tut es nicht. So geht man leicht weiter, mal hintereinander, mal nebeneinander. Mal allein. Ein Schnaufen, ein Blick, eine Pinkelpause.

Im Vorbeigehen finden wir die Ringelspuren des Dreizehenspechtes in der Fichtenrinde. Die haut er mit dem Schnabel hinein, um den austretenden Baumsaft abzuzapfen. Weiß man das einmal, wird man die Spuren in diesem Märchenwald nicht mehr übersehen.

Als Trenkwalder merkt, dass einem der Rucksack schwer wird, hängt er zusätzlich das meterlange Seil darauf – nur, um es bald darauf wortlos wieder abzunehmen. Plötzlich ist der Rucksack leicht. Druck ist vielleicht nur eine Frage der Einstellung.

Am Grödner Joch ist Lambo-Treffen

Abends dann die Auflösung, woher das Kichern kam. Druckausgleich. Oder halt einfach: Spaß, ausgelöst durch das psychologische Grundbedürfnis Selbstwirksamkeit. Eigentlich ganz schön, dass die Beine von Felskanten mit Hämatomen in allerlei Farbverläufen tätowiert wurden. Was machen wir morgen?

Trenkwalder hat eine App, die verschiedene Wetterprognosen auswertet. Auch sie zeigt viele blaue Flecken: Regenfelder, viele Regenfelder. Der Juni ist in ganz Südtirol zu nass, sodass die Bäuerinnen um ihre Heuernte fürchten. „Wir haben bis zum frühen Nachmittag. Dann gehen wir den Klettersteig auf die Große Cir.“

Die leicht angespannte Google- Suche „Große Cir wie schwer“ ergibt: „Der versicherte Weg auf die Große Cirspitze (Gran Cir) ist sogar für einen Berner Sennenhund machbar und eher ein schwarzer Bergweg als ein Klettersteig. Ausrüstung: Für Ungeübte Klettersteigausrüstung, Kinder evtl. ein Sicherungsseil.“ Das meint bergsteigen. com.

Als wir losgehen, ist am Grödner Joch Lambo-Treffen. Eine Kolonne der bonbonfarbenen Autos jault durchs Tal, dazu dröhnt ein tief fliegender Versorgungshelikopter. Pisten-Infrastruktur steht
nutzlos herum, die Schneekanonen sehen aus wie riesenhafte elektrische Zahnbürsten. „Apokalypse Now“, kommentiert der Filmexperte der Reisegruppe. Vor genau 15 Jahren hat das Unesco-Welterbekomitee die Dolomiten in die Liste des Weltnaturerbes aufgenommen. Dies lockt nun so viele Touristen aus aller Welt an, dass sie der Natur gefährlich werden.

Nach einer halben Stunde Aufstieg weist uns Trenkwalder an, die Helme aufzusetzen und die Klettergurte anzulegen. Wir sind jetzt eine Seilschaft. Entweder Trenkwalder ist sehr vorsichtig oder der Berner Sennenhund des bergsteigen.com-Autors außergewöhnlich gut in Form.

Ab dem ersten Drahtseil sichern wir uns mit je zwei Karabinern. Klettert einer etwas zu schnell eine Felsplatte hoch, spüren die anderen seinen Zug. Rechts geht es steil hinab, überall Geröll. Klong, donnert der Helm vor einen Felsvorsprung. Karabiner auf, Karabiner zu. Es dauert seine Zeit, bis wir einen Rhythmus gefunden haben. Dann funktioniert die Seilschaft. Nicht schlecht für eine Gruppe, die sich am Vortag erst kennengelernt hat. „Was macht man gegen Höhenangst?“, will einer wissen.

Langsam zieht es sich zu, doch bedrohlich ist es nicht, oder?

Trenkwalder macht vor, wie sich Ängstliche am Berg festklammern, buchstäblich einfrieren – und rät, das Gewicht erstmal wieder auf die Füße zu verlagern für einen festen Stand. Später wird er
sagen: „Wer nie Angst hat am Berg, ist psychisch nicht gesund.“

Am Gipfel Rundum-Sicht auf Sellastock, das Puez-Hochplateau und den Langkofel. Wir lernen eine einheimische Friseurmeisterin und ihre Tochter kennen, die sich nach einem frühmorgendlichen Arbeitseinsatz auf dem Klettersteig entspannen. Die Dolomiten stehen als Kulisse im Portfolio vieler international tätiger Hochzeitsplaner, und die Bräute brauchen Sturmfrisuren und tränenfestes Make-up, bevor sie im Helikopter fürs Fotoshooting auf ein Felsplateau geflogen werden. Ein Sehnsuchtsort waren die Bleichen Berge schon immer. Egal, wie man sich ihnen nähert: Den Mutigen setzen sie vieles ins Verhältnis.

Beim Abstieg schaut Pauli auf seine Wetter-App. „Holt die Regenjacken raus“, meint er. Die Reisegruppewechselt Blicke. Es zieht sich zwar zu, doch bedrohlich wirkt es nicht. Trotzdem gehorchen wir. Als das Cape sitzt, kommt ein kurzer Wolkenbruch und lässt das Geröllfeld glitschig zurück. „Irgendwelche Tipps für sicheres Gehen auf vielen beweglichen Steinen?“ – „Einfach gehen.“

Komplexer wird es beim abendlichen Debriefing. Wir sind dem vielfach besprochenen Phänomen auf der Spur, warum man beim Wandern „den Kopf frei bekommt“. Trenkwalder erklärt dies streng wissenschaftlich mit transienter Hypofrontalität. Beim Bergsteigen werde, wie beim Sport allgemein, der motorische Cortex aktiviert, der präfrontale Cortex komme zur Ruhe. Die kognitiven Fähigkeiten sinken unter körperlicher Belastung. Auch die Flow- Theorie legt nahe: Einfälle kommen in Bewegung, wenn man sie nicht erzwingt. Das bedeutet nicht, dass jede Idee, die man auf dem Waldweg hat, gut sein muss.

Am letzten Tag gehen wir von Wolkenstein über die Silvesterscharte zur Stevia-Hütte. In der Scharte sind es zwei Grad, die Stevia- Hütte hat – wie alle Hütten, die wir in diesen drei Tagen ansteuern – noch geschlossen. Knödelsuppen-Enttäuschungsmanagement, auch das lehrt einen was. Doch wir dürfen uns in Tonis Stube bei einem Schnaps aufwärmen und schon ans Schgaguler-Restaurant denken.

Es duftet nach kühlen Steinen und nassem Moos

Auf dem Rückweg bleibt Trenkwalder so abrupt stehen, dass man beinahe in ihn hineinrennt. Auf einem Felsvorsprung tut ein Murmeltier, was ein Murmeltier tun muss. Süß? Nein. Murmeltiere, erfahren wir, lassen ihre Alten zum Sterben vor der Höhle, bevor der Winterschlaf beginnt. Weil es effizienter ist. In der Schlucht unter uns wallt Nebel auf. Es duftet nach kühlen Steinen und nassem Moos.

„Schon schön, oder?“ Trenkwalder erzählt, wie altbacken er früher erfahrene Wanderführer fand, die stehen bleiben und andere auf die Schönheit der Natur hinweisen. Mittlerweile ertappe er sich häufiger dabei, es selbst zu tun. Was das wohl über einen sagt? Das besprechen wir später.

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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Und ob ich das kann! Freundin 2023

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Beitrag erschienen in Freundin 21/2023

Jetzt kenne ich meine Grenzen. Und Respektiere Sie.

Text: Nina Banneyer, Johanna Mohr, Anna-Helene Leitz
Illustrationen: Charlotte Ager

Auf einem winzigen Vorsprung stehen meine Füße, mein Körper an den nackten Felsen gepresst. Runterschauen? Auf keinen Fall. Mein Atem rast, mein Herz auch. Was, wenn ich eine falsche Bewegung mache? Ich sehe mich schon unten liegen. Von oben höre ich ungeduldig: „Los, weiter – ist nicht mehr weit!“ Sagt sich so leicht. Ich bin wie gelähmt vor Panik. Wie komme ich hier nur raus? Vielleicht mit dem Rettungshubschrauber?

Die erste Attacke von Höhenangst packte mich vor etwa 4 Jahren auf einer anstrengenden Bergtour, die über einen Klettersteig führte. Ich war selbst überrascht. Und erschrocken, als die Angst danach immer häufiger zuschlug. Als mich schließlich sogar auf einem Balkon im fünften Stock Panikgefühle überkommen, beschließe ich, aktiv zu werden. Über den Tipp einer Ex-Kollegin finde ich zu Pauli Trenkwalder. Erfahrener Bergführer, diplomierter Psychologe und Coach. Er begleitet Leute wie mich, die unter Höhenangst leiden. In einem Telefonat versuchen wir herauszufinden, ob es für uns beide passt, wie Pauli sagt. Pauli ist sympathisch, vertrauensweckend, und er hört genau zu. Ich erzähle ihm alles: von meiner Höhenangst seit der Panikattacke auf dem Berg, wie schlimm es für mich war, zu erleben, dass mein Körper nicht mehr das tat hat, was ich wollte. Und dass mich inzwischen Angst überfällt, wenn ich nur auf einem hohen Balkon stehe. Pauli bittet mich, zu erzählen, wie es zu dem Ereignis gekommen sei. Zu dem „Ausgesetztsein“, wie er es in seinem angenehmen Südtiroler Dialekt nennt. Ich erzähle, dass ich mich bei der Planung einer vermeintlich mittelschweren Wanderung komplett auf meinen Begleiter verlassen habe. Und wie unwohl ich mich fühlte, als wir den Weg verloren und auf einer rutschigen, steil abfallenden Bergflanke landeten. Meine Knie zitterten, als wir uns schließlich vor einem Klettersteig wiederfanden, wo Stahlseile und Haken in den Berg gehauen waren. Ich verdrängte mein ungutes Gefühl, bis ich schließlich bewegungslos am Felsen hing. Mein Begleiter reagierte verständnislos. „Angst gibt es nicht“, rief er mir stattdessen zu.

Pauli sieht das anders. „Angst in der Höhe ist eine natürliche Reaktion des Körpers, die Sinn hat“, sagt er. „Sie ist schützend.“ Und die Angst auf dem Balkon? „Die macht nicht so viel Sinn. Das können wir uns anschauen.“ Zwei Monate später treffen wir uns in Sterzing in Südtirol. Hier soll ich meine Höhenangst hinter mir lassen. Und zwar am Berg. „Was ist dein Ziel?“, fragt Pauli mich, als wir uns am Abend zuvor zum Vorgespräch treffen. „Ich möchte einen Klettersteig gehen können“, antworte ich wild entschlossen. Pauli stutzt. Warum gleich einen Klettersteig? Weil ich zum Ursprung meiner Angst zurückgehen möchte. Ich möchte genau die Bewegungsunfähigkeit überwinden, die mich damals lähmte. Und gleichzeitig merke ich, wie nervös mich mein im Wortsinn hochgestecktes Ziel macht. Ich habe echt Bammel.

Am nächsten Tag fahren wir in ein abgeschiedenes Bergtal. Respekt einflößende graue Steinberge erheben sich über mir, manche von ihnen sind mit Schnee bedeckt. Meine Idee, einen Klettersteig gehen zu wollen, kommt mir jetzt reichlich übertrieben vor. Noch dazu sehe ich etwas skeptisch, wie Pauli Helme, lange Seile und Klettergurte und Karabinerhaken einpackt. Was hat er vor? Ich stapfe hinter ihm die Blumenwiese hoch. Als Pauli anhält, stehen wir an einer Stelle, wo es sanft den Berg hinunter geht. Ein kleiner Abhang mit Gebüsch und Gehölz. Pauli fragt: „Wie geht es dir? Ist das aushaltbar für dich?“ Was? – denke ich, dieser kleine Abhang soll mir Angst einflößen? „Nein, alles gut.“ Manche hätten hier schon Höhenangst, erzählt er mir. Für mich unvorstellbar, denn hier hole ich mir allenfalls ein paar blaue Flecken, wenn ich stolpere und hinunterfalle. „Siehst du“, sagt er. „Du kannst es dir rational erklären.“ Wir marschieren weiter, der Weg wird schmaler und abschüssiger. Geröll und Kiesel am Wegesrand, kein abpolsterndes Gebüsch mehr. Herunterfallen möchte ich hier nicht. „Und?“, fragt Pauli, „wie ist es hier?“ „In Ordnung“, sage ich. Ich habe keine Angst. Nächster Stopp. Ein grasiges Plateau, unter uns die letzten Bäume. Ich sage: „Solange ich Bäume sehe, geht es mir gut, da habe ich keine Angst.“ Pauli erwidert. „Da weiß jemand, wie weit er gehen kann“. Meine persönliche Grenze ist also gesetzt.

Dann stehen wir vor dem Klettersteig. In den Berg gehauene Stahlseile führen steil hinauf. „Fühlst du dich bereit?“, fragt Pauli. Ich nicke. Ich bekomme einen Klettergurt, der um die Hüfte und um die Beine geschlungen ist. Daran wird das Klettersteigset befestigt, an dem zwei Karabiner an Zugseilen hängen. Ich kann mich also selbst sichern an dem Stahlseil, das in dem Berg eingelassen ist. Zusätzlich dazu sichert mich Pauli mit Seilen. Er sagt: „Ich vertraue dir, dass du das schaffst, und Du vertraust mir, dass ich dich halte.“ Es kann mir also nichts passieren. Dieses Vertrauen, das merke ich jetzt, ist das Allentscheidende. Ich fühle mich sicher. Aufgeregt, aber ohne Angst. Pauli erklärt mir, wie hoch dieser Klettersteig geht und welchen Verlauf er hat. Auch das ist wichtig. Ungewissheit verunsichert und verängstigt. In etwa zu wissen, was auf einen zukommt, hat etwas Beruhigendes. Dann geht es los. Ich konzentriere mich auf die Tritte, halte mich am Seil oder an Steingriffen fest. Und stelle erstaunt fest: Es macht Spaß, großen Spaß sogar! Ruck Zuck bin ich oben.

Ich bin stolz, es bis hier hingeschafft zu haben. Aber auch irritiert. Habe ich doch gar keine Höhenangst? War das nur Einbildung? Wenn es jetzt so einfach für mich ist, was ist dann bei dieser Panikattacke am Berg passiert? „Du hättest den Klettersteig damals wahrscheinlich sogar geschafft, wenn du nicht schon vorher am Steilstück Angst bekommen hättest“, sagt Pauli. „So war deine psychische Kraft schon aufgebraucht. Jeder hat davon nur ein bestimmtes Kontingent davon. Wenn das verbraucht ist, kommt die Angst.“ Niemand sei vor Höhenangst gefeit, beruhigt er mich. Er habe schon Profi – Kletterer gesehen, die plötzlich in der Wand festhingen, weil auch sie ihre psychische Reserve aufgebraucht hatten. Deswegen sei es so wichtig, Bergtouren an den eigenen Grenzen auszurichten und gut zu planen.

Ich verstehe. Und will am liebsten gleich weiter hochsteigen, so euphorisch hat mich der Triumph über meine Angst gemacht. „Ich glaube, es ist genug“, sagt Pauli. „Höhenangst besiegt man, wenn man in kleinen Dosen positive Erlebnisse sammelt.“ Wir haben die genau richtige Dosis erreicht. Auf der Tour habe ich nicht nur gelernt, mich im Gelände so zu bewegen, dass ich mich im Gebirge sicher fühle. Vor allem habe ich gelernt, Grenzen zu erkennen und zu achten. Meine Kraft richtig einzuschätzen, in mich reinzuhorchen. Das gilt nicht nur für die Berge, sondern hilft mir auch im Alltag.

Meine Tipps gegen die Höhenangst

  1. Naturbeobachtungen beruhigen und lenken ab. Öfter mal den Blick in die Weite schweifen lassen und schauen, was man so sieht. Dabei tief ein und ausatmen.
  2. Achtung: Sich an eine vermeintlich sichere Felswand zu lehnen, versteht der Körper als Alarmsignal, weil sich der Schwerpunkt verlagert. Lieber auf beide Füße stellen und zur Mitte ausrichten.
  3. Lippenbremse: Die Lippen zusammenpressen und fest ausatmen. Bringt den Sauerstoff-Haushalt wieder ins Gleichgewicht und schwächt so die Angst- oder Panikattacken ab.

Spaziergang mit Hund – das trau ich mich jetzt

Johanna Mohr, 29, hat sich ihrer Hundeangst gestellt – und die Vierbeiner anders kennengelernt.

Es war mein erster Job, ich war 14 und unglaublich stolz: Jeden Samstag trug ich Supermarkt Werbung aus und verdiente so mein erstes eigenes Geld. An einem Morgen betrat ich ein Grundstück, das ich schon einige Male beliefert hatte. Plötzlich preschte ein Labrador- Retriever bellend auf mich zu und sprang an mir hoch. Ehe ich mich versah, biss er in die Prospekte in meiner Hand und zerfetzte sie knurrend. Zum Glück griff der Besitzer ein. Ich war trotzdem völlig verstört. Und gehe seither mit großer Angst vor Hunden durchs Leben.

Ich fürchte mich vor allem vor größeren Hunden. Was blöd ist, denn die Vierbeiner sind überall. In der Stadt, im Park, bei Freunden und immer öfter auch im Büro. Allein joggen im Feld? Für mich unmöglich. Auf dem Gehweg wechsle ich die Seite, wenn mir ein Mensch mit Hund entgegenkommt. Wie oft habe ich mich schon hinter Bäumen, Müllcontainern oder Autos versteckt, weil irgendwo ein frei laufender Hund herumscharwenzelte? Dass meine Hundeangst nur von sehr wenigen Menschen ernst genommen wird, macht es nicht leichter. Aussagen wie „Der tut doch nichts“, helfen einem nicht. Dabei mag ich Hunde sogar. Trotzdem hielt ich sie die letzten 15 Jahre lieber auf Distanz.

Als ich dieses Jahr in eine neue Wohnung ziehe – mit einer Mitbewohnerin, die ihren Windhund ab und zu da hat – beschließe ich: Es muss sich was ändern. Auf meiner Suche nach einem Training stoße ich auf wecoachyou. Das Team aus fünf Mensch-Hund-Coachinnen, mit Standorten in Offenburg, Frankfurt, München, Polling und Dresden, verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der die individuellen Persönlichkeitsmerkmale von Mensch und Hund berücksichtigt (wecoachyou.de). Von den Coachinnen ist eine Veterinärmedizinerin und drei andere sind staatlich geprüfte Hundetrainerinnen.

Beim Kennenlerntermin mit Petra Metz und Angelika Peter sprechen wir über den Auslöser meiner Angst – und ganz viel anderes: über meine Eltern, ehemalige Lehrkräfte, meinen Partner und Freunde, über Introversion und Unsicherheiten. Ich lerne, dass es okay ist, Angst zu haben, und ich mich dafür nicht schämen muss. Und noch viel wichtiger: ich darf erwarten, dass man meine Angst respektiert. Zum Abschluss geben mir die beiden konkrete Tipps zur Bewältigung von Angstattacken. Mein Körper reagiert meist mit Schwitzen und schnellem Atem, ich verkrampfe und kämpfe mit den Tränen. Was da hilft? „Schreien zum Beispiel“, sagt Petra. „Manche singen auch, hüpfen auf und ab oder schütteln sich. Egal wie, du musst die Anspannung im wahrsten Sinne abschütteln, damit du nicht noch mehr verkrampfst“, erklärt sie.

Gelegenheit dazu bietet sich zwei Wochen später beim Seminar „Dein Hund & Du“. Petra und Angelika wollen uns anleiten, das Wesen eines Hundes besser zu erkennen und zu verstehen. Wir schauen uns verschiedene Hunderassen an. Ich lerne, dass auch Hunde intro- oder extravertiert sind und jeder Hund eine Rolle hat: Entscheidungsträger, Leithund oder Mitarbeiter. Dann üben wir mit echten Tieren. Als ein Hund eine schnell laufende Teilnehmerin bellend verfolgt, erschrecke ich. Bellen triggert meine große Angst, gebissen zu werden. Wie empfohlen reagiere ich mit kräftigem Schütteln und einem lauten „woah“. Und tatsächlich: Ich bin weniger angespannt. „Ein Hund, der bellt, hat was zu sagen“, erklärt mir Petra. Und dass es sehr lange dauert, bis ein Hund wirklich beißt. „Nur wenn er sich bedrängt fühlt.“ Gehe ich also an einem Hund vorbei, der mich anbellt, kann ich sagen: „Ich möchte nur hier lang gehen. Ich tue dir nichts, du tust mir nichts.“ Hunde, so Angelika, spüren die Energie eines Menschen. Je vertrauensvoller ich zu mir selbst bin, desto besser können auch Hunde mich einschätzen.

Zum Abschluss nehmen mich Teilnehmer Martin und seine Hündin Kira mit auf einen Spaziergang. Wir laufen durchs Feld, Kira streift an meinen Beinen vorbei. Ich bin innerlich bei mir und weiß, dass sie nur schnuppert. Dass keine Gefahr von ihr ausgeht, das spürt auch sie. Als uns ein körperlich deutlich überlegener Rüde entgegenkommt, drehen wir auf meinen Wunsch dann aber doch um. „Du kannst nicht von heute auf morgen den Schalter umlegen. Das ist ein langer Prozess, der einfach Zeit braucht“, ermutigen mich die Coachinnen. Immerhin: Ein Anfang ist gemacht.

Meine Tipps gegen Angst vor Hunden

  1. Bewältigungsstrategien wie Singen oder sich schütteln helfen während der Angstattacke, überschüssige Energie loszuwerden.
  2. Kleine oder besonders sanftmütige Hunde sind ein guter Anfang, um sich den Vierbeinern anzunähern.
  3. Ihre Freundin hat einen Hund? Begleiten Sie sie auf die Hundewiese und beobachten Sie die Tiere und ihr Verhalten aus sicherem Abstand.

Ich fahre wieder. Und werde jeden Tag sicherer.

Anna-Helene Leitz, 44, hat sich nach über 20 Jahren wieder ans Steuer getraut – dank Fahrstunden bei einer spezialisierten Lehrerin.

Die Ampel springt auf Grün. Ich gebe Gas. Rechts abbiegen. Nach 350 Metern halte ich am Straßenrand, blinke, parke rückwärts ein. Geschafft. Mit einem stolzen Lächeln ziehe ich den Schlüssel ab. Ich habe gerade meinen Sohn von seinem Freund abgeholt – mit dem Auto.

Klingt total selbstverständlich für Sie? Für mich war es das lange nicht. Dabei habe ich meinen Führerschein seit fast 25 Jahren. Gefahren bin ich davon allerdings nur knapp drei. Mit Anfang 20 geriet ich mit einem Kleinbus auf der Autobahn ins Schleudern. Ich hatte Todesangst und obwohl zum Glück nichts passierte – mein damaliger Freund griff ins Lenkrad und half mir, das Auto auf dem Standstreifen zum Stehen zu bringen – habe ich mich ab diesem Moment nicht mehr hinters Steuer getraut. Aus Angst, wieder die Kontrolle über ein Fahrzeug zu verlieren und dadurch mich und andere in Gefahr zu bringen.

Vermeidungsverhalten nennen das Verkehrspsychologen wie Birgit Scheucher von der Verkehrspsychologischen Praxis München. Das Problem: „Das Vermeiden schützt zwar vor angstauslösenden Situationen, verhindert aber langfristig, dass das Gehirn neue, positive Erfahrungen mit dem Autofahren verknüpft. So bleibt die Angst bestehen und ist beim nächsten Fahrversuch möglicherweise noch größer.“ Diese Erfahrung musste auch ich machen: Einmal fuhr ich mit meinem Mann um den Block, ein anderes Mal nahm ich eine Auffrischungsstunde in einer örtlichen Fahrschule. Beide Male war ich danach noch unsicherer als vorher. Gleichzeitig ärgerte ich mich immer mehr darüber, so unselbstständig zu sein. Ständig musste ich andere bitten, mich mitzunehmen, meine Kinder zum Turnen, zum Reiten, zum Oboenunterricht zu fahren.

Vor gut einem Jahr beschließe ich also, es noch einmal zu versuchen – diesmal mit einer Expertin und in meinem eigenen Tempo. Ich melde mich bei Nina Kandlbinder von der Münchner Fahrschule „Pro-Frau“ (frauen-fahrschule.com). Die 44-Jährige hat sich auf Frauen mit Fahrangst spezialisiert, zu ihr kommen Schülerinnen jeden Alters, von Mitte 20 bis über 60. „Sie sind längst nicht die Einzige“, beruhigt sie mich im Vorgespräch. Trotzdem bin ich vor der ersten Stunde unglaublich nervös: Was, wenn ich wirklich nicht mehr fahren kann? Wenn ich das Gaspedal nicht mehr finde? Oder das Auto beim Ausparken an die Wand setze? Aber meine Sorgen sind unbegründet. Nina Kandlbinder nimmt sich die Zeit, mir alles noch mal von Grund auf zu zeigen: Spiegel einstellen, Blinker setzen, rückwärtsfahren. „Der erste Schritt ist es, mit dem Auto vertraut zu werden, das ist die Basis, auf der alles aufbaut.“ Die ersten beiden Stunden üben wir nur auf dem Parkplatz. Im Schritttempo fahre ich von Lücke zu Lücke, immer darauf bedacht, das Lenkrad gerade zu halten. Danach geht es durchs Wohngebiet. Ich wiederhole, worauf es beim Linksabbiegen ankommt, „großer Bogen, auf Gegenverkehr und Radfahrer achten!“, und wie man beim Rückwärtseinparken korrigiert.

Von Stunde zu Stunde achte ich weniger auf mich und fokussiere mehr auf den Verkehr um mich herum. Das gibt mir die nötige Sicherheit, um mich in die belebte Innenstadt und schließlich auch auf die Autobahn zu trauen. „Konzentrieren Sie sich auf den Abstand zum Vordermann und lassen Sie sich nicht drängeln“, rät mir Nina Kandlbinder mit ruhiger Stimme. Nie wird sie laut, nie ungeduldig – im Gegenteil, wir lachen unheimlich viel miteinander. Nach jeder Stunde besprechen wir die kritischen Situationen, aber auch, was richtig gut gelaufen ist. Ich bekomme Hausaufgaben, zum Beispiel sonntags zum Supermarkt zu fahren, um das Einparken zu üben. So kann ich auch die Zeit zwischen den Stunden nutzen. Dazu gibt es ein Begleitbuch für die Theorie. Aus den geplanten zehn Fahrstunden werden schließlich 14. Die erste habe ich im September gemacht, die letzte im Mai. Ich habe mir Zeit gelassen, viel geübt. Und auch ein paar Dellen in unser Auto gefahren (die Einfahrt ist wirklich sehr schmal). Aber jetzt fahre ich wieder. Und ich werde jeden Tag sicherer.

Meine Tipps gegen Fahrangst

  1. Nicht drängeln lassen. Brenzlige Situationen entstehen meist durch Hektik.
  2. Nicht fahren, wenn man wütend oder traurig ist. Miese Laune überträgt sich sofort auf den Fahrstil. Besser: zur Ruhe kommen oder doch das Rad nehmen.
  3. Üben, üben, üben. Am besten am Sonntagmorgen, da ist wenig Verkehr.
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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Ich kann nicht mehr! Süddeutsche Zeitung 2021

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Beitrag erschienen in der Süddeutschen Zeitung, 3./4. Juli 2021

Auf Berge zu steigen, ist zunächst einmal: anstrengend und nutzlos. Dennoch wandern und klettern immer mehr Menschen auf Gipfel. Was gibt ihnen der schweißtreibende Weg in die Höhe? Eine psychologische Spurensuche auf einer Bergtour mit der Familie.

Text: Sebastian Herrmann

Dicke, gelbe Blüten durchtupfen die saftigen Almwiesen. Ein milder Wind wogt das Meer aus Halmen und Blumen. Über den Himmel ziehen ein paar Wolken von watteweicher Kuscheligkeit. Ein Bach plätschert gen Tal, Enzian wächst am Wegesrand, Blaubeersträucher schmiegen sich an Felsbrocken. Schmetterlinge taumeln durch die Schatten der großen Fichten, Lärchen, Kiefern und anderen Bäume, die ihre ausladenden Äste über die Hänge breiten. Am Horizont ragen die Felsformationen der Dolomiten empor. Ist das dort der Peitlerkofel oder der, die, das Furchetta? Die Gipfel-App auf dem Smartphone streikt, das Netz hier oben schwächelt, ein Glück. Sommer in Südtirol, Sommer in den Bergen, die Morgenluft ist frisch und klar, nirgends kann es gerade schöner sein als hier in den Bergen.

„Ich kann nicht mehr“, jammert der sechsjährige Sohn.

Der Aufbruch liegt maximal zehn Minuten zurück, welche das sechs und zehnjährige Brüdergespann genutzt hat, sich um die Kamera zu streiten.

„Wir sind gerade erst losgegangen“, jammert der Vater und fasst den Vorsatz, entspannt zu bleiben.

„Kindgerecht“ soll diese Tour sein. Zwar befindet sich die Familienwandergruppe auf etwa 2000 Metern Höhe. Aber die Wege verlaufen fast eben durch Almwiesen, nur selten geht es kurz bergauf. Das nächste Ziel ist eine Portion Kaiserschmarrn auf einer Hütte in, großzügig geschätzt, eineinhalb Stunden Entfernung.

„Warum muss man in den Bergen wandern gehen?“, legt der Sechsjährige nach.

Da pikst der Junge den Vorschulfinger in eine Grundwunde des Alpinismus. Er äußert eine Frage, die sich stellt, wenn Extremsportler ihr Leben riskieren. Eine Frage, die sich vor Bergsteigern ohne Hochleistungsambition auftürmt, wenn auf einer Tour die Erschöpfung gnadenlos einsetzt. Eine Frage, die sich Kinder stellen, wenn sie mit ihren Eltern in den Bergen ein bisschen wandern sollen: Wozu steigt ein Mensch auf einen Berg, wo es doch auch im Tal Kaiserschmarrn gibt?

„Um Gott zu finden“, soll der italienische Dichter Francesco Petrarca 1335 gesagt haben, dessen Besteigung des Mont Ventoux oft als Geburtsstunde des Bergebesteigens um seiner selbst willen verklärt wird.

„Weil er da ist“, lautete die berühmte Antwort des britischen Alpinisten George Mallory, als er nach seiner Motivation zur Bezwingung des Mount Everest befragt wurde, an dem er 1924 verscholl.

Weil er als Mann „keine Kinder bekommen“ könne, soll Reinhold Messner einmal gesagt haben.

„Weil es schön ist“, sagt der Vater zu seinem Sohn.

„Es ist nicht schön“, sagt der Sohn.

Zwischenfazit nach einer halben Stunde Familienwanderung: Was Menschen in den Bergen suchen und finden, klärt sich nur mühsam auf. Die gängige Bergliteratur liefert ebenfalls nur einen zarten Hinweis. Alpinisten der Gegenwart verbrämen ihre Expeditionen als quasispirituelle Klettertour zu sich selbst: Wo Petrarca noch den lieben Gott suchte, erwarteten Bergsteiger heute die Wunschversion ihres Ichs. Auch das lässt sich als zeitgeistiger Ausdruck von Ratlosigkeit lesen. Es zeigt aber: Die Berge und die Bewegung in ihnen wirkt auf die Psyche des Menschen, offenbar vor allem auf positive Weise.

 Weiß die Wissenschaft die Route zu tieferen Einsichten?

Die unmittelbare Sinnlosigkeit, auf einen Berg zu steigen, hat den Verhaltensökonomen George Loewenstein einmal dazu verleitet, einen klassischen Aufsatz über die Motivation von Bergsteigern zu schreiben. Die Ökonomie frage ja stets nach dem reinen Nutzen von Gütern, Erfahrungen oder Transaktionen, so der Forscher. Die Grundannahme lautet: Menschen entscheiden sich für Dinge, die sie mögen. Aber ernsthaftes Bergsteigen sei sehr oft eine elende Erfahrung, so Loewenstein, Kälte, Nässe, Erschöpfung, Hunger, Durst, Angst, Erfrierungen, quälend lange Märsche, um dann quälend lange Klettereien anzutreten. Das widerspricht dem klassischen ökonomischen Denken.

 „Ich kann wirklich nicht mehr“, sagt der Sechsjährige.

Es braucht keine Expedition. Auf den Nanga Parbat, um zu begreifen: Unmittelbarer Spaß ist eine Tour in die Berge selten. Diese Erkenntnis liefert auch eine Tour mit Kindern. Aber die Lust am Bergsteigen speist sich aus genau diesem Paradoxon: Es ist großartig, weil es so schrecklich sein kann. Die nötige Anstrengung könnte, so zeigt psychologische Forschung, sinnstiftend wirken. Das leicht Verfügbare gibt rasche Zufriedenheit, das Schwere und die Überwindung schenken hingegen Gefühle von Sinn und Stolz. Vielleicht ist das ein klitzekleines bisschen damit vergleichbar, Kinder zu haben: Es ist anstrengend, es kostet Kraft, Schlaf, Energie, Nerven, Zeit – und es ist das Größte der Welt. Das akute Glück sackt müde zusammen, wenn die Kleinen fordern, nerven, nölen, das Leben aber bekommt durch sie: einen Sinn.

Aspekte davon stecken womöglich in dem Drang, Gipfel zu besteigen. Zum Sehnsuchtsort bewegungswilliger Massen haben sich die Berge schließlich erst parallel zum Rückgang körperlicher Plackerei im Alltag entwickelt. Es waren englische Adelige, die vor gut 200 Jahren den Alpinismus in die Alpen brachten. Die Lords von der Insel sahen einen Abenteuerspielplatz. Für die Bewohner vor Ort waren die Berge hingegen etwas Bedrohliches, etwas Lebensfeindliches, dort hausten Dämonen. Und wozu braucht es Freizeitschinderei, wenn das Leben ohnehin aus Hunger, Erschöpfung, Kälte und harter Arbeit besteht? Womöglich ist das Bergsteigen eine Simulation dieser überwundenen Alltagshärten. Die schlimmsten Erfahrungen auf solchen Touren erzeugten die besten Erinnerungen, schreibt Loewenstein. Überstandene Zumutungen verklären sich zu intensiven Erinnerungen.

Der Sechsjährige fängt an zu singen. „Last Christmas“ von Wham! Wirklich. Der schlimmste aller Weihnachtsohrwürmer. Sein Bruder fällt ein. Das nur lautmalerische Englisch ist herzzerreißend.

 Die Bewegung in den Bergen entspannt, manchmal sogar die Kinder. Studien legen nahe, dass Wandern und vergleichbare Aktivitäten Stress reduzieren, Anspannung lösen und das Denken lüften. Die Alltagsschinderei besteht heute für sehr viele Menschen weniger aus körperlichen Strapazen als aus Terminstress, Entscheidungsüberforderung und oft aus der Frage, welche von den unzähligen Möglichkeiten für Projekte, Arbeit, Freizeit nun ausgewählt werden sollen. Eine Bergtour reduziert diese Überforderung, weil sie die Zahl der Möglichkeiten radikal verkleinert. Es geht nur darum, das anvisierte Ziel zu erreichen.

 Erwachsene hören auf, über Vorgesetzte zu grübeln, und finden in die reine Tätigkeit des Gehens. Auch den Kindern gelingt das phasenweise: Statt ein paar Folgen „PawPatrol“ auf dem Tablet oder eine Portion Süßigkeiten einzumaulen, laufen sie, weil in den Bergen kaum andere Möglichkeiten der Bespaßung bestehen. Das Denken lockert sich. Der Rhythmus der Bewegung fördert Ohrwürmer, Ideen und Gedanken zutage, die im Alltag blockiert werden. Gelegentlich stellt sich dabei ein Zustand ein, den der Glücksforscher und Psychologe Mihály Csíkszentmihályi als „Flow“ bezeichnet hat: die völlige mentale Vertiefung in die aktuelle Tätigkeit. Der Rest der Welt blendet sich aus, es gibt nur mehr Bewegung, Schritt für Schritt, Kletterzug für Kletterzug.

„Ich bin der beste Diamantsucher der Welt“, sagt der Sechsjährige.

Die Kinder sammeln jetzt Steine. Quarzbrocken, glitzernde Kiesel, Hauptsache, es funkelt. Sie gehen auf in dem, was sie machen. Gestört wird dieser Flow kurz von der Diskussion, wer die vielen wertvollen Schätze für den Rest der Tour tragen soll. Der Rucksack des Vaters nimmt stetig an Gewicht zu. Doch die Landschaft lenkt davon ab. Im Schatten einer einsamen Kiefer steht eine Kuh und glotzt mit leicht irr hervorstehenden Augen herüber. Am Wegrand wächst Frauenmantel, auf dessen Blättern gebogene Wassertropfen die Sonne reflektieren. Am Horizont die Gipfel. Die Psyche profitiert von Zeit, die im Grünen, im Freien verbracht wird. Landschaften reduzieren Stress, heben die Laune und verbessern die Gedächtnisleistung. Diese Effekte sind nicht riesig und ein klarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ist schwer zu belegen. Aber dennoch, die Abwesenheit von Verkehr und Reizüberflutung entspannt, die Bergkulisse weckt Gefühle von Erhabenheit und Ehrfurcht.

 „Wie lange müssen wir noch laufen?“, fragt der Sechsjährige.

Es ist nicht mehr weit bis zur Kaiserschmarrn verheißenden Hütte. Vielleicht noch eine halbe Stunde, zwischen Almen hindurch, vorbei an einem Berghof, vor dem Hühner scharren und ein kleiner Hund sich streicheln lässt. Das Ziel liegt jetzt vor Augen. Auch das ist ein Balsam, den eine Bergtour auf die Seele salbt: Ein definiertes Ziel kann so guttun. Eine Hütte, ein Gipfel, eine Route, egal ob Leistungsanspruch oder Spaziergang, es handelt sich um Vorhaben, deren Klarheit die Psyche entspannt. Ein erreichtes Ziel beeindruckt das Selbst, es lindert Zweifel. Natürlich gilt das auch für Extrembergsteiger, die gerade neue Rekorde durch die Todeszone erklettert haben. Aber es gilt auch für die Familienmitglieder, die nach einer Wanderung erschöpft die Bergschuhe aufschnüren und genießen, wie leicht sich die befreiten Füße nach Stunden in schweren Stiefeln plötzlich anfühlen. Und natürlich geht es auch um Ruhm. Wer von einer Bergtour erzählt, erntet mehr Anerkennung, als wenn er von einem Serienmarathon auf dem Sofa berichtet. Erst recht gilt das für das „Höher, schneller, gefährlicher“ des Extremalpinismus.

„Was ist der höchste Berg der Welt?“, fragt der Sechsjährige.

Die letzte halbe Stunde vergeht also mit Gesprächen über den Mount Everest und andere Riesen aus Fels. Kinder lieben Rekorde. Es geht um die Frage des Sohnes, ob schon einmal jemand an einem Achttausender abgestürzt ist und wer da überhaupt hinaufgekrabbelt ist. Die Rede kommt auf den allgegenwärtigsten aller Bergsteiger, Reinhold Messner, und darauf, dass auf den ganz hohen Bergen auch im Sommer Schnee und Eis liegen. Dann stehen wir auf einmal vor der Hütte. Der Kaiserschmarrn schmeckt großartig, hinter dem Haus laufen ein paar junge Schweine herum, die Kinder spielen, es ist herrlich. Was könnte es jetzt Schöneres geben, als hier in den Bergen zu sein? Nach dem Essen steht irgendwann der Rückweg an, das genau gleiche Programm noch einmal.

„Papa, ich kann wirklich, wirklich, wirklich nicht mehr!“

Es ist wunderbar in den Bergen.

„Angst gehört dazu“
Ein Bergführer und Psychologe über Risikoeinschätzung am Berg.

Draußen wird mit lauten Traktorengeräuschen das Heu gewendet, sodass Pauli Trenkwalder für das Videogespräch erst mal das Fenster schließen muss. Man erwischt ihn zwischen ein paar Touren zu Hause in Südtirol, wo er mit seiner Tochter und seiner Frau lebt.

SZ: Herr Trenkwalder, wie viel Angst muss ich am Berg haben, damit sich mein Ausflug danach richtig aufregend und befriedigend anfühlt?

Pauli Trenkwalder: „Ein bisschen Angst darf schon sein, es sollte aber nicht zu viel werden!“, sagen meine Gäste gern, wenn sie ihre Wunschtour beschreiben. Angst und Sorge, also Anspannung vor der Bergtour, trägt dazu bei, dass ein Erlebnis im Gedächtnis bleibt. Zur Befriedigung führt allerdings nicht der Grad an Angst, sondern das richtige Maß zwischen Unter- und Überforderung. Gleichzeitig brauche ich die Angst am Berg dringend, denn sie ermahnt mich zu Vorsicht und Fürsorge.

Ich meinte eigentlich nicht Vorsicht, sondern dieses Gefühl, das Menschen in den Bergen suchen, wenn sie immer krassere Sachen machen.

Ich verstehe, Sie meinen den Kick. Menschen suchen ja sehr Unterschiedliches am Berg. Aber wir alle haben das Bedürfnis nach abwechslungsreichen und neuen Eindrücken, dafür nehmen wir physische, psychische und soziale Risiken auf uns. Wenn wir uns beide auf der „Sensation Seeking Scale“ vergleichen, also der Suche nach befriedigenden Stimuli, haben wir ziemlich sicher nicht dieselbe Grundlinie, um den Kick zu finden. Das hat aber wenig mit dem Berg an sich zu tun.

Extrembergsteiger sind nicht stärker auf der Suche nach existenziellen Erfahrungen, als etwa Büromenschen?

Nein, Bergsteiger sind nicht grundsätzlich risikofreudiger oder weniger ängstlich als andere. Ob High oder Low Sensation Seeker, Profibergsteiger sind sich meist sehr bewusst, mit welchem Persönlichkeitsprofil sie im Gebirge unterwegs sind und welchem Risiko sie sich aussetzten. Die grundsätzliche Verknüpfung von Bergsport und Risikofreude ist für mich nicht stimmig.

„Die Verknüpfung von Bergsport und Risikofreude ist für mich nicht stimmig.“

Es scheint Sie zu nerven, wenn man die Verknüpfung zieht, also unterstellt, dass Extrembergsteiger irgendwie todesmutiger sein müssen als der Rest der Welt.

Sehen Sie, am Ende ist Bergsteigen, wie alles, eine Tätigkeit, die man auf sehr unterschiedlichen Stufen ausführen kann. Man kann als Anfänger in die Berge gehen und eine gute Zeithaben. Oder als Fortgeschrittener. Oder als Profi. Für den Profi ist Risikoabschätzung ein Teil seines Könnens, das er mit viel Zeit maximal zu perfektionieren versucht. Natürlich ist er da besser als der Hobbybergsteiger. Profis treffen bewusst die Entscheidung, sich einem höheren Risiko auszusetzen. Dass ein Nichtbergsteiger diese Entscheidungen nicht nachvollziehen kann, liegt in der Natur der Sache. Frauen und Männer, die das Bergsteigen auf hohem Niveau praktizieren, haben über viele Jahre unzählige Erfahrungen gesammelt und reflektiert. So können sie auf eine gewachsene Intuition zurückgreifen, um gute Entscheidungen zu treffen.

Ist diese Intuition für jeden erlernbar?

Ganz automatisch passiert das auf jeden Fall nicht. Nehmen wir eine Skiabfahrt über einen Hang, der lawinengefährlich sein könnte. Wenn Sie den Hang nicht abfahren, wissen Sie im Nachhinein nicht, ob Sie eine Lawine auslösen hätten können. Wenn Sie ihn abfahren und es passiert nichts, ist es aber noch komplizierter. Sie könnten denken, Sie treffen gute Entscheidungen, weil nichts passiert ist. Gleichzeitig wissen Sie nicht, wie nahe Sie dran waren an einem Lawinenabgang. Nur wer kritische und schwierige Situationen am Berg im Nachgang nochmals anschaut, reflektiert, sich mit anderen austauscht und mit Distanz auf das eigene Verhalten blickt, gewinnt Erfahrung mit hoher Qualität. Dies wirkt auf die eigene Intuition. Das ist aufwendig und kostet viel Zeit.

Wovor haben Sie selbst Angst?

Gewitter im Sommer, Lawinen im Winter – und alle Situationen, auf die ich kein Einfluss nehmen kann. Aber ich bin ganz gut darin, die Angst dann auszuhalten.

Fühlen Sie sich danach gut oder schlecht?

Das Zurückdrängen von Angst ist eine psychische Leistung und in gefährlichen Situationen am Berg eine sehr stimmige Reaktion. Die Erfahrung zu machen, dass man mit Angst umgehen kann, stärkt. So gesehen bin ich danach immer erleichtert. Es gibt aber auch Ereignisse, die akute oder posttraumatische Belastungsreaktionen auslösen. Angst gehört zum Bergsteigen dazu. Und man muss übrigens nicht bergsteigen, um glücklich zu werden.

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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Angst und die Dunkelheit. AVS Berge erleben 2020

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Beitrag erschienen in Bergeerleben 03/2020 des Alpenverein Südtirol

Die Psyche und die Nacht am Berg

Stell dir vor, du stehst alleine im Wald. Es ist dunkel und deine Pupillen sind geweitet, um das wenige, noch vorhandene Licht aufzunehmen. Du hast keine Taschenlampe dabei, auch kein Mobiltelefon, um Licht ins Dunkel zu bringen. Wie wird dein Körper und deine Psyche reagieren?

Mit Sicherheit wird dein Sehsinn, der durch die Dunkelheit wenig Information bekommt, vermehrt durch deinen Gehörsinn unterstützt. Auf einmal hörst du mehr und differenzierter als sonst. Du wirst spüren, dass dein ganzer Körper aktionsbereit ist. Deine Muskeln sind angespannt, dein Herz schlägt schneller und du bist bereit wegzulaufen oder anzugreifen.

Denn, was da im Dunkeln hinter dem Busch ist, ist ungewiss. Unsicherheit macht Angst. Die Fantasie ist meist schlimmer als die Realität.

Früher, bei den alten Griechen, war es mit der Angst deutlich einfacher. Da lag die Zuständigkeit für Angst beim Gott des Waldes und der Natur Pan. Ein Mischwesen aus Menschenoberkörper und Ziegenbock. Pan wurde von den Hirten verehrt, lebte im Wald und in den Bergen und liebte die Mittagsruhe. Wenn man ihn zu dieser Stunde störte, so konnte er sehr ungehalten werden und versetzte Schafherden in panischen Schrecken. Daher kommt der Begriff „Panik“ , welcher eine starke intensive Angst beschreibt. Übrigens erfand Pan liebestrunken auch die „Panflöte“.

Zurück in den dunklen Wald und die aufkommende Emotion Angst. Nach den Erklärungen der alten Griechen konnte die körperliche Empfindung und das Wahrnehmen von physischen und psychischen Reaktionen bezüglich Angst und Sorge, nur damit zu tun haben, das hinter irgend einem Busch der Gott Pan lauert. Sonst würde man Angst ja nicht verspüren. Eine hervorragende Idee, Angst auszulagern.

Heute wissen wir, Angst und wie man darauf reagieret und damit umgeht, hat mit einem selbst zu tun.

In der Psychologie gilt die Angst als das am frühesten entwickelte Gefühl. Schon als Säugling, dann als Kleinkind und später als Heranwachsender erleben wir Angst als emotionale Reaktion im Erleben unserer Umwelt und in Beziehung mit unseren Nächsten. Neben der rein existentiellen Angst in gefährlichen Situationen erleben wir schon sehr früh die Angst vor dem Verlust der Bezugsperson und vor dem Verlust der Liebe der Bezugsperson. Im Heranwachsen erfahren wir die Angst vor dem Verlust der Selbstbestimmung und später die Angst vor der Hingabe. Die kindliche Lerngeschichte mit diesen Beziehungsängsten determiniert weitgehend unsere spätere Persönlichkeitsentwicklung. Unser erlernter Umgang im Vermeiden von angstauslösenden Situationen prägt unser habituelles Verhalten im Erwachsenenalter.

Es ist nicht nur die Dunkelheit die uns Angst machen kann. Beim Klettern und Bergsteigen begegnet sie uns immer wieder, sie ist im Hintergrund immer irgendwie dabei. Die Erscheinungsformen und Ausprägungen sind dabei so unterschiedlich wie wir Menschen und unser Tun in der Vertikalen. Der Aspekt der Gefährdung, des Risikos für Leib und Leben produziert Angst. Das Spektrum der Gefahr reicht von echter Todesgefahr, wie etwa beim Soloklettern, bis hin zur rein subjektiven Flugangst beim gut gesicherten Sportklettern. Aber ob Höhenangst oder Todesangst, die tatsächliche Gefährdung hat wenig Einfluss auf unser subjektives Angstgefühl. Die gefühlte Intensität erstreckt sich von leichter Erregung bis hin zur Panikattacke.

Mit Blick auf die Evolutionspsychologie stellt die Nacht eine Gefahr dar, gleichzeitig schütz die Dunkelheit auch. Schon oft erlebte ich sie unterstützend, besonders dann, wenn sie den Blick in die Tiefe versperrt. Manch ein Gast der im Vorfeld voller Sorge auf die bevorstehende Tour war, schilderte mir im Nachhinein, dass er über die Finsternis im Aufstieg froh war. So konnte er den Abgrund nicht sehen und ohne Ablenkung über den Felsgrad klettern.

Der bergsteigende Mensch ist ein erfahrener Experte im Umgang mit Angst und die Zurückdr.ngung derselben. Das Unterdrücken von Angst kostet Kraft und Energie. Letztendlich ist Höhenangst eine biologisch eingeprägte psychische Reaktion und die Angst vor der Dunkelheit wurzelt in unserer Evolution. Diese Ängste haben jeher unser Überleben gesichert.

Wie oft durchschreiten wir die Nacht auf dem Weg zu unserem Bergziel? Es ist der Sternenhimmel, die blaue Stunde und der Sonnenaufgang der uns belohnt. Und wie bei allen Themen im Umgang mit der Angst, sollten wir auf die Dosis achten, der wir uns aussetzen.

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| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Berge machen im Kopf frei! Berg Krone 2019

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Beitrag erschienen in Kronen Zeitung, 12/20219

Wer Probleme hat, der findet in den Bergen leichter eine Lösung, ist der Südtiroler Pauli Trenkwalder überzeugt: „Denn Berge tun nicht nur der Seele gut, sondern sorgen beim Bergsport auch für kreative Phasen.“

In den Bergen kann man gut entspannen und über Dinge nachdenken, ist Pauli Trenkwalder
überzeugt. Und der Südtiroler muss es wissen, sind Berge doch sein Arbeitsplatz. Der 44-Jährige ist Bergführer und gleichzeitig auch ein erfahrener Psychologe. Was passiert denn am Berg eigentlich?

„Der Mensch fährt sein System herunter“, ist Pauli überzeugt: „Der Glücksforscher Czikszentmihalyi nennt es Floweffekt, es stellt sich ein Glücksgefühl ein, wenn man eine Extremsituation überstanden hat. Der Neurobiologe Arne Dietrich sagt, es gibt in uns ein implizites und ein explizites Hirnkastl. Beim Bergsport fährt das explizite System jedoch herunter und der Autopilot übernimmt. Ich muss also nicht mehr darüber nachdenken, wie ich einen Fuß vor den anderen setze. Diese Bewegung ist dann automatisiert, deshalb kann ich mich voll und ganz auf andere Sachen konzentrieren.“ Pauli bietet seinen Kunden damit viel mehr als ein unvergessliches Bergerlebnis. „Zu mir kommen Menschen, die ein Anliegen oder ein Problem haben und dabei Unterstützung oder Hilfe benötigen.“ Menschen, die in einem anderen Beruf noch einmal neu durchstarten, Führungskräfte, die sich weiterentwickeln wollen, oder Leute, die Schwierigkeiten in ihrer Liebesbeziehung haben. „Diese Menschen sind nicht psychisch krank, brauchen auch keine Therapie, sondern wollen einfach gewisse Themen mit einer externen Person besprechen. Also einfach über Sachen reden, über die man mit der Familie, Freunden oder Bekannten nicht sprechen will oder kann.“ Bei den Bergtouren mit seinen Kunden arbeitet Pauli mit klassischen Instrumenten der Psychologie, wie Gesprächsführung, Fragestellung; und der Berg und die Natur bieten das einzigartige Setting dafür. „Der Berg selbst therapiert ja nicht!“, schmunzelt Pauli: „Aber die Umgebung hilft, weil man seinen Blick schweifen lassen kann, wenn man mehrere Stunden lang gemeinsam unterwegs ist. In einem Raum, in einer Praxis ist der Blick gebunden, man kann maximal von einer Wand zur anderen blicken. Am Berg ist der Blick hingegen frei, man spürt Wärme oder Kälte, den Luftzug, man sieht Farben und plötzlich versinkt man in seinen Gedanken, in den Themen und das bringt viel schneller gesuchte Lösungen hervor.“ Nicht umsonst zieht es immer mehr Menschen unbewusst hinaus in die Natur, in die Bergwelt. „Und wenn sie dann zurückkommen, sagen diese Leute, das hat mir gut getan“, so der Psychologe: „In der Natur passiert einfach etwas in uns, was eben gut für uns ist.“

Hannes Wallner
Verliebt. Dolomiten | Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Auf dem Weg zu mir selbst. Flow Magazin 2019

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Beitrag erschienen in flow, Unterwegs in Südtirol 03.2019

Berge tun der Seele gut. Aber können sie auch Probleme lösen? Marie Van Elst hat es ausprobiert und liess sich von Pauli Trenkwalder in den Bergen Südtirols zu sich selbst führen.

Was für ein Anblick! Der Himmel über dem gut 2000 Meter hohen Jaufenpass nahe Sterzing strahlt blauer als von der schönsten Postkarte. Am liebsten würde ich einfach genau hier bleiben und mich sattsehen. ,,Dort wollen wir heute rauf.“ Pauli Trenkwalder, mein Bergführer, zeigt in Richtung Gipfel. Ich kneife die Augen zusammen. Die Sonne blendet mich. Irgendwo zwischen Wiese und Fels kann ich einen schmalen Weg erkennen. Sieht steil aus. Ob mir beim Anstieg genug Atem zum Reden bleibt? Schließlich bin ich deshalb hierhergekommen.

Etwas verändern

Es ist nämlich so: Ich bin ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten. Job, Familie, Partnerschaft und der Wunsch, auch ein bisschen noch mein eigenes Ding zu machen – irgendwann dachte ich mal, ich bekäme das alles locker unter einen Hut. Aber ich merke immer mehr, wie ich ständig meinen eigenen Ansprüchen hinterherhetze. Zumal ich auch gerne noch jedes zusätzlichePäckchen mitnehme, das das Leben mir vor die Füße wirft. ,,Klar, das schaff ich auch noch“, denke ich dann. Doch langsam geht mir die Kraft aus. Und ich würde sie mir sehr gerne zurückholen.

Pauli Trenkwalder kennt diesen Wunsch. Seit 14 Jahren arbeitet er als Psychologe. Und zwar ohne Couch und Praxis, sondern in den Bergen. Der 44-Jährige ist in Südtirol aufgewachsen. Sein Vater arbeitete bei der Bergrettung, Pauli klettert, seit er laufen kann. Er weiß, wie gefährlich die Berge sind, aber auch, wie gut sie der Seele tun können. Deshalb hat er vor ein paar Jahren beides verbunden – Psychologie und Wandern. ,,Bei meiner Arbeit als Bergführer habe ich gemerkt, dass die Menschen hier draußen besser über sich selbst und ihre Gefühle reden können. Für mich als Psychologen sind das optimale Voraussetzungen.“ Zu ihm kommen Leute mit Beziehungsproblemen, die Orientierung suchen oder bei einer schweren Entscheidung unterstützt werden wollen. Pauli setzt bei seiner Form der Therapie vor allem auf geteilte Zeit, gemeinsame Erlebnisse und den natürlichen Rhythmus, der sich beim Wandern ergibt. Ich allerdings zweifle noch, ob ein einziger Tag ausreicht, um mich einem Fremden zu öffnen.

Nichts Anmerken lassen

Als wir losgehen, ist der Weg breit und relativ flach. Ich nehme die ersten Meter so schnell, dass ich direkt außer Atem bin. Für den blauen Himmel, die blühenden Wiesen und die mächtigen, zum Teil selbst jetzt im Sommer noch weiß getupften Berge rundum habe ich gar kein Auge. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, so geräuschlos wie möglich weiterzuatmen, damit Pauli mir die Anstrengung nicht anmerkt. An der ersten etwas schwierigen Stelle will er mir die Hand reichen. ,,Ich schaffe das schon!“, sage ich, und es klingt schroffer als beabsichtigt. Eigentlich ist es mir auf dem engen Steig mit dem dünnen Drahtseil als einzigem Halt nämlich schon etwas mulmig. Pauli lächelt verständnisvoll, und die kleinen Falten um seine grünen Augen graben sich tiefer in seine sonnengebräunte Haut. Ich lächle zögerlich zurück. Was er jetzt wohl von mir denkt?

„Die Menschen denken, ich könnte sie lesen wie ein Buch“, sagt er in die Stille. Ich fühle mich ertappt. Viele glaubten, so Pauli, dass man als Psychologe lerne, alles zu deuten und zu interpretieren. Das stimme zwar nicht, aber dennoch nutze er diesen Irrtum gerne, um seinen Klienten am Berg näherzukommen und das Ungesagte, das, was wirklich auf ihrer Seele liege, aus ihnen herauszukitzeln. ,,Oft geht es bei meiner Arbeit darum, Verhaltensmuster aufzudecken.“ Viele stammen noch aus der Kindheit. Sie haben sich zu irgendeinem Zeitpunkt bewährt. Doch jetzt stören sie. So wie mein Drang, keine Schwäche zu zeigen. Schule, Uni, Job – er war lange mein Motor. Doch jetzt, wo ich in meinem Leben angekommen bin, hindert er mich daran, Ruhe zu finden. Ich gönne mir keine Pausen.

Müssen oder Wollen

Pauli übernimmt die Führung. Ich lasse ihn das Tempo bestimmen. Wir werden langsamer. Endlich kann auch ich meinen Blick schweifen lassen, registriere die weiß blühenden Heidelbeersträucher am Wegesrand, die wilden Blumen auf den Wiesen und die mächtigen Ötztaler Alpen am Horizont. Ich atme tief durch und versuche, diese unglaubliche Weite in mir aufzunehmen. Während meine Schritte endlich ihren Rhythmus finden und sich mein Atem normalisiert, geht Pauli in Vorleistung und erzählt viel über sich, seine Tochter und seine Frau, mit der er sich immer über die richtige Methode zum Wäscheaufhängen zankt. Ich lache, bleibe stehen. Unter uns, im Jaufental, versprechen einzelne Holzhäuser Geborgenheit, wie man sie aus den Geschichten von Heidi kennt. Über uns zieht ein Adler seine Kreise.

Ich merke, wie meine Schale knackt. Ich gehe weiter und muss an meine Familie denken, meinen Alltag, meine Arbeit. ,,Wo bist du jetzt?“ Paulis Frage schreckt mich auf. ,,Ich weiß es nicht.“ Die Gedanken sind zu schnell. Ob mein Mann die Waschmaschine in meiner Abwesenheit mal angeschmissen hat? Schaffe ich die liegen gebliebene Arbeit auf meinem Schreibtisch? Vermissen mich die Kinder? Alle Fragen stellen sich gleichzeitig, so wie im Alltag oft alle Aufgaben. Ich bin überwältigt von dem Gefühl, mich um so vieles kümmern zu müssen. ,,Musst du das wirklich?“, fragt Pauli.

Den Blickwinkel ändern

Nach gut 45 Minuten Wandern sind wir bei einer zentralen Frage meines Lebens angelangt. ,,Muss ich das wirklich?“ Ich glaube schon. Trotzdem gestehe ich Pauli, wie ich mich abends manchmal ins dunkle Schlafzimmer schleiche, während meine Söhne mit meinem Mann die Zähne putzen. Fünf Minuten Ruhe und Stille. ,,Das ist doch großartig“, sagt Pauli. ,,Da hast du doch einenwunderbaren Weg gefunden, um deine Belastung abzumildern und dich zu entspannen.“ – ,,Aber es sind doch bloß fünf Minuten“, erwidere ich. ,,Viele Menschen schaffen selbst das nicht. Da sind alle Ventile zu. Dann kommt der Burn-out.“

Bisher habe ich meine Minuten im Schlafzimmer immer als Flucht gewertet. Ich bin nicht bei den Kindern, helfe meinem Mann nicht. Pauli dreht den Gedanken einfach um. Ich bin überrascht, wie einfach man den Blickwinkel wechseln kann. Natürlich gelingt das nicht immer so leicht. Aber die Idee beschwingt mich. Obwohl der Pass zum Gipfel hin immer schmaler und steiler wird, werden meine Schritte leichter und sicherer. Ich spüre die warme Sonne. Wie schön es hier ist! In mir wächst das Gefühl, mit einem Freund unterwegs zu sein. Die Sorte, die nicht nur redet, sondern auch fragt und einen herausfordert.

Auf dem Weg

Die letzten Schritte zum Gipfel lässt Pauli mich allein gehen. So habe ich alles einen Moment lang für mich – meine Gedanken, die schroffen Felsen und diese unfassbare Aussicht. Bis zum Horizont türmen sich die Berge wie Wellen. Manche sind mit vollen Wäldern bewachsen, andere schneebedeckt. Ich komme mir klein und gleichzeitig wahnsinnig groß vor. Ich fühle mich stark und voller Energie. Eigentlich ist es doch ganz gut, mein Leben. Ich muss nur öfter durchatmen. Im dunklen Schlafzimmer oder eben hier in den Bergen. Diesen Gedanken werde ich festhalten und mitnehmen – auf meinem Weg ins Tal und in meinen Alltag.

Coaching in den Bergen und Anreise

Pauli Trenkwalder erklimmt mit seinen Klienten je nach Wunsch Gipfel oder führt sie auch auf mehrtägige Touren. Preis nach Absprache. Menschundberg.com
Anreisen nach Südtirol kann man gut mit der Bahn (bahn.de). Von München über den Brenner gibt es täglich fünf direkte Verbindungen nach Bozen. Von dort geht’s zu den weiteren Reisezielen bequem und günstig mit dem gut ausgebauten Nahverkehrssystem. Nähere  Informationen finden sich unter suedtirol.info/anreise

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Glücklich & müde. Bergsteigen in Südtirol | Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Der Weg zu mir selbst. Donna 2018

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Beitrag erschienen in Donna 2018

Lassen sich beim Wandern Probleme lösen? Was bewirkt ein Coach am Berg? Unsere Autorin hat es ausprobiert und einiges über sich herausgefunden.

Text: Lisa Frieda Cossham

Als hätte sie jemand für uns ausgerollt, liegt die Wiese vor uns. Zwischen langen Halmen leuchten einzelne Blüten in Rot, Blau und Weiß. Ich muss mich setzen. Der Anblick tröstet, die Gräser im Wind klingen wie die Worte meiner Großmutter: Kind, so schlimm wird es schon nicht sein. Die Sonne bricht durch den Nebel, und wenige Meter weiter unten stehen die ersten krummen Lärchen, wir haben die Baumgrenze fast erreicht. Jetzt wird alles einfacher, denke ich, und dass ich nicht mehr frieren muss. „Eine versöhnliche Wiese“, sage ich, und Pauli Trenkwalder, mein Bergführer, lacht. Er steht, lässt mich sitzen. Auf geht’s, hätte er vielleicht gerufen, ginge er mit der Zielstrebigkeit eines Bergführers vor, aber Pauli Trenkwalder, den ich Pauli nenne, weil man sich am Berg duzt, ist auch Psychologe und Coach. Er weiß, der Wiesenmoment ist wichtig, weil er mich zuversichtlich stimmt. Wir sind seit drei Stunden unterwegs, haben fröhliche und schwere Momente überstanden, Wolken durchquert und Murmeltiere beobachtet. Wir haben geredet und geschwiegen, während wir auf dem Grat der Weißspitze gewandert sind, ein Berg wie ein Kalkdreieck mit einem Kreuz auf 2714 Metern. Erreicht haben wir es nicht. Ich bin nicht nach Südtirol gereist, um Gipfel zu erstürmen, sondern um herauszufinden: Was bewirkt ein Coaching am Berg? Wie lassen sich Probleme in der Natur lösen? Hilft mir die Bewegung zu verinnerlichen, was ich mit meinem Coach herausfinde? Ich habe auch Fragen aus meinem Alltag mitgebracht: Was hält mich ab, mein nächstes Buch zu beginnen? Aber auch: Wie kann ich besser auf mich aufpassen, für mich sorgen, mit mehr Ruhe gönnen in meinem vollen Leben?

 Als mich Pauli Trenkwalder morgens in meinem Hotel in Sterzing abholt, habe ich plötzlich Angst. Ist Wandern nicht eine private Angelegenheit, genau wie meine Sorgen? Warum liefere ich mich freiwillig diesem 43-jährigen Mann aus, der zwar einen freundlichen Eindruck macht – aber wer weiß schon, ,wie er sich auf dem Berg verhalten wird?

Wir rumpeln in seinem VW-Bus über Schlaglöcher, Pauli versteht meine Angst. Sagt, am Berg sei man halt aufeinander angewiesen. Ein spontaner Kontaktabbruch unmöglich. Man brauche eine Vertrauensbasis, deshalb führe er mit seinen Klienten ein Vorgespräch. Um Nähe zu schaffen. Themen zu sondieren. Er macht das seit mehr als 16 Jahren. Zu ihm kommen Menschen mit Job- oder Beziehungsproblemen, Erschöpfte oder solche, die vor einer schweren Entscheidung stehen oder eine private oder berufliche Kurskorrektur benötigen. Menschen, die ein richtungsweisendes Gespräch suchen. Mal plant Pauli eine Tagestour, mal eine mehrwöchige Kletterreise. Manche Menschen buchen ihn zehnmal im Jahr, andere nur dann, wenn sie akuten Bedarf haben. Meistens entscheidet er, wo es langgehen soll, so wie heute. ,,Wir starten auf 1900 Metern, ziemlich weit oben. Wir haben nur einen Tag und sollten keine Zeit mit einem langen Aufstieg verlieren“, sage Pauli. Er parkt.

Nebeneinander gehen wir einen breiten Waldweg entlang. Die Wege, sie sind wichtig. Sie prägen die Gesprächssituation. Da wir uns noch nicht kennen, brauchen wir ausreichend Platz, um nebeneinander zu gehen. Ich begreife, dass der Augenkontakt am Berg freiwilliger ist als in geschlossenen Räumen. Ob ich Pauli anschaue, während ich von mir erzähle, oder den Blick schweifen lasse, ist mir überlassen. Das befreit mich, manches kommt mir auf diese Weise leichter über die Lippen. Der Weg bestimme auch das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz. Manchmal ist er so schmal, dass man hintereinandergehen muss. Dann ist keine Unterhaltung möglich, und die Wanderer sind ihren Gedanken überlassen. Auch unser Weg ist schmaler geworden. „Ich lenke jedes Treffen“, wird Pauli später sagen. Er beobachtet genau, wie ich reagiere, ob ich zurückfalle, neben dem Weg gehe oder vorauseile. Dabei hört er genau zu. ,,Das habe ich gar nicht gefragt“, sagt er einmal, als er mich bei einem wortreichen Ausweichmanöver ertappt. Wir wandern den Westrücken des Berges hinauf durch Wolken, es ist steil und kalt geworden. Ich muss nichts entscheiden, deshalb bin ich nicht hier. Ich habe einiges entschieden, und Pauli fragt mich nun: Was genau? Was hält dich davon ab, dieses oder jenes zu tun? Die Kälte kriecht mir in die Glieder, mir gefällt nicht, was ich von mir erzähle. Ich hätte gerne meine Fassung wieder, die mir der Bergmensch mit seinen einfachen Fragen raubt.

Er macht das wie nebenbei, und in der dünnen Luft kommen mir meine Antworten ganz durchsichtig vor. Ich kann ihm auf 2500 Metern nichts vormachen, der Aufstieg kostet mich Konzentration, die Situation ist intim. Meine Stimme klingt brüchig, und das ist mir peinlich. Ich laufe voraus. Pauli folgt mir still. ,,Bise du müde? Dein Gang hat sich verändert“, stellt er schließlich fest und erzählt, dass sich der seelische Zustand im körperlichen ausdrücke. Einen Klienten habe er, der verändere den Schritt, sobald er ein bestimmtes Thema anspreche. Der schlurfe fast, so bedrücke ihn das. Wie erschöpft jemand ist, lasse sich auch am Blick ablesen: „Müde und depressive Menschen lassen ihn nicht mehr schweifen. Sie bleiben bei sich, selbst wenn Gamsböcke vorbeiziehen.“ Es tröpfelt, und Pauli kontrolliert die Wettervorhersage. Wir stehen vor einem Schild: „Weißspitze 50 Minuten“, steht darauf. Missmutig stelle ich fest, dass hier oben keine Bäume mehr wachsen und nur mehr Geröll liegt. Pauli fragt lächelnd: ,,Ist dir der Gipfel wichtig?“ Meine Stimmung scheint wie verwoben mit den tiefhängenden Wolken, und da teilen Pauli und ich Schokoladenkekse und Nüsschen. Das stabilisiert mich. Als Team entscheiden wir, zur Hühnerspielhütte abzusteigen. ,,Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?“, frage ich kurz darauf. Pauli schaut nur, und ich muss lachen. Was für eine Frage. Er ist in den Bergen aufgewachsen, in einem der Täler, die unter uns liegen. Schon sein Vater war Bergsteiger, auch Bergretter. Dass Berge gefährlich sind, hat Pauli früh verinnerlicht, und trotzdem hat er zusammen mit seinem Bruder „schwer geklettert“. Violett war der erste eigene Karabiner, den ihm sein Vater geschenkt hat, und groß der Wunsch, eines Tages damit Geld zu verdienen. Er studierte Psychologie in Innsbruck, machte die Bergführerausbildung, Berge und Menschen sind seine Lebensthemen. Am liebsten gehe er zu zweit los. Zu zweit bestehe die Möglichkeit, dass „etwas entstehe“, erklärt er, leichter als in einer Gruppe.

 Die Herausforderung sei es, die Menschen im Guten zu entlassen. Jemanden aufzuwühlen sei nicht so schwer, wie ihn aufzufangen. Pauli unterrichtet angehende Bergführer darin, wie sie am besten mit sperrigen Gästen umgehen. Was zu tun ist, wenn jemand in Panik ausbricht. ,,Panik ist einfach zu viel Angst“, sage Pauli ruhig, ,,und damit kann man lernen umzugehen.“ Er zeige den Menschen, die mit ihm aufsteigen, wozu sie in der Lage sind. Selbstwirksamkeit heißt das in der Psychologie. Sie sehen den Weg, den sie zurückgelegt haben, und erfahren, dass sie erreichen können, was sie sich vornehmen. Das sitzt ihnen buchstäblich in den Knochen, wenn sie in ihr Alltagsumfeld zurückkehren.

 Knödel aus Polenta und Gorgonzola, dazu Krautsalat – der Hühnerspielhütte essen wir frisch Zubereitetes, trinken selbst gemachte Holunderlimonade und blicken auf die Sterzinger Bergwelt. ,,Lass mich in Sterzing einfach am Bahnhof raus“, bitte ich Pauli, und er entgegnet lächelnd: ,,Sind wir denn schon unten?“ Sind wir nicht, vor uns liegen noch eine halbe Stunde Abstieg. Seine Frage holt mich zurück in die Gegenwart. Wir schweigen, und ich begreife, dass Stille zu einem Coaching am Berg dazugehört. Pauli Trenkwalder will mich nicht optimieren, sondern mir eine Begegnung ermöglichen. Was ich gelernt habe? Wird sich zeigen. Ob ich etwas in meinem Leben verändern werde? Vielleicht. Ziele habe ich nicht notiert, aufgestiegen bin ich trotzdem, und zwar ziemlich hoch. Stunden später stehe ich zwischen Grenzbeamten am Brenner und warte auf meinen Anschlusszug nach München. Er hat 40 Minuten Verspätung. Ich zähle die durchrauschenden Güterzüge. Es sind zwei. Die Anstrengung des Tages macht mich schwer, eine wohlige Erschöpfung. Ich muss an die Blumenwiese denken. Und daran, dass es keinen besseren Ort gibt, um sich selbst de Freundschaft anzubieten, als im weichen Gras unterhalb des Gipfels, kurz vor den ersten windschiefen Lärchen.

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Selfie. Ortler, Südtirol | Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Der Berg als Couch. All Mountains 2018

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Beitrag erschienen in All Mountain N°8, 2018

Wie wirken die Berge auf den Menschen? Und kann uns die Natur helfen, uns weiterzuentwickeln? PAULI TRENKWALDER (43) ist Bergführer und Psychologe. Er meint: „Die Berge sind eine tolle Couch!“

Text: Christian Penning

Seit Menschengedenken sind Berge etwas Besonderes. Manche sind sogar heilig. „Die Berge geben mir Energie“, sagt Pauli Trenkwalder, als er vor seinem Haus in Gossensaß südlich des Brenners steht und auf die Gipfel ringsum blickt. Sie sind ihm vertraut. Ein Stück Heimat. Und sie sind für ihn Arbeitsplatz. Als Bergführer. Und als Psychologe. Statt sie auf die Couch zu setzten, geht er mit seinen Klienten auf Tour. Die Berge als Heilmittel, als Kraftorte für Kopf, Seele und Geist?

 „Da begibt man sich schnell auf den Pfad der Esoterik“, überlegt Pauli und fährt sich durch die wuscheligen Locken. Sein Blick auf die Berge ist eher pragmatisch. „Sie sind zunächst einmal Landschaft, ganz einfach. Sie sind keine Methode. Doch diese Landschaft wirkt auf uns Menschen. Man fühlt sich ausgesetzt, klein. Für manchen ist diese Exponiertheit den Naturgewalten gegenüber kaum auszuhalten, bisweilen gar beängstigend. Deshalb kommt es auf die individuell passende Dosis an. Die kann sehr unterschiedlich sein. Für den einen ist es eine entspannte Wanderung, für den anderen eine technisch, körperlich und geistig anspruchsvolle Kletterei in der Vertikalen. Doch allen gemeinsam ist: Nach gelungenen Unternehmungen fühlt man sich wohl. Natur tut gut.

Das mache ich mir zunutze, wenn ich Menschen als Psychologe berate. Bei Beziehungsproblemen, in Angstsituationen, bei schwierigen Situationen im Job oder wenn sie das Gefühl haben, im Leben neue Weichen stellen zu müssen. Wer zu mir kommt, ist in der Regel mit den Bergen vertraut. Südtirol bietet da ein ideales Umfeld. Die wilden Dolomitenmassive. Die sanften Almlandschaften. Das gute Essen, der Wein. Da ist es einfacher, sich zu öffnen. Und die Schwelle, mit einem psychologischen Berater durch die Berge zu streifen, ist niedriger, als in die Praxis eines Psychologen zu gehen. Dort, in einem abgeschlossenen Raum, können die Blicke nicht schweifen. Draußen dagegen fällt es leichter, Dinge auch mal sacken zu lassen, zu reflektieren. Gedanken weiterzuspinnen, ohne gleich eine Antwort parat haben zu müssen. Die Aufmerksamkeit ist hoch. Das erleichtert mir die Arbeit. Ich stoße Dinge an, lasse sie sich entwickeln. Einen direkten therapeutischen Nutzen der Berge sehe ich nicht unbedingt. Aber sie sind ein guter und effektiver Rahmen.

Meine Aufgaben als Bergführer und Psychologe trenne ich klar. Man muss kein Psychologe sein, um Bergführer zu werden. Aber in manchen Situationen hilft entsprechendes Wissen. Ich leite auch Seminare in der Bergführerausbildung. Einfühlungsvermögen, das Verständnis, warum sich Gäste wie verhalten und eine psychologische Analyse des Gruppenverhaltens sind wichtige Teile des Führens. Als Bergführer musst du voll und ganz den Menschen zugewandt sein. Genau wie als Psychologe. Es geht nicht um meine Ziele. Es geht darum, dass die Augen des anderen leuchten. Das kann anstrengender sein als eine Kletterei im Felsen. Deswegen ist es auch für mich wichtig, immer wieder zur Ruhe zu kommen, Energie zu sammeln, mich einzuordnen. Die Berge sind ein idealer Platz dafür – sei es bei anspruchsvollen Klettertouren mit Freunden oder gemütlich mit der Familie.“

| Pauli Trenkwalder, Berge & Psychologie

Bildet Klettern die Persönlichkeit? Climax 2018

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Beitrag erschienen in Climax 2018

Persönlichkeitsbildung und Klettern – oder die Rolle der Psyche beim Klettern

Autoren: Pauli Trenkwalder, Psychologe & Bergführer &
Martin Schwiersch, Psychologe; Psychotherapeut & Bergführer

Sind wir mal ehrlich, wenn wir unseren kletternden Freunden zuschauen, da gibt es eine Vielzahl von Unterschieden, wie sie sich an einem Stück Fels versuchen. Der eine bewegt sich sehr kontrolliert, präzise, chamäleonähnlich langsam eine mehr oder weniger steile Wand nach oben und natürlich wurde vorher noch das Leibchen akkurat, ordentlich gefaltet und bedacht auf dem Stein neben den Rucksack gelegt. Wieder ein anderer kletternder Mensch hat ein unüberschaubares Chaos im Haulbag, am Standplatz und am Gurt sowieso, wo willkürlich unsortiert Friends, Expressschlingen und sonstiges Zeugs durch die Gegend baumelt. Da kann es doch auch so sein, dass das Klettern und wie es praktiziert wird Ausdruck der Persönlichkeit ist. Freilich alles kein Problem, denn jedem seine Neurose!

Trotzdem wollen wir mal hinschauen, ob es Persönlichkeitsfaktoren gibt, die wir mit Zahlen belegen können. 2004 waren wir Mitverfasser einer Studie der Sicherheitsforschung des DAV, bei der 278 Kletterinnen und Kletterer in der Halle beobachtet und befragt wurden. Unter anderem verwendeten wir einen psychometrischen Fragebogen, das Hamburger Persönlichkeitsinventar HPI. Damit kann man bei Menschen folgendes messen:

– emotionale Labilität bzw. Neurotizismus
– Extraversion bzw. Introversion
– Offenheit für neue Erfahrungen
– Kontrolliertheit, Normgebundenheit
– Altruismus
– Risikobereitschaft

Ziel war es zu prüfen, ob die Teilnehmer sich in ihren Persönlichkeitsmerkmalen und dabei vor allem in dem der Risikobereitschaft von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden. Die Antwort lautet: „A bisserl, ober nit wirklich“; sprich: ja zum Teil, aber nicht in relevanten Ausmaß. Kletterer sind weniger emotional labil, weniger erfahrungsoffen, weniger kontrolliert und normgebunden, sowie risikobereiter als die Normalbevölkerung – die Gemeinsamkeiten überwiegen die Unterschiede! Kletterer sind weder „gesünder“ noch die „besseren“ Menschen, sondern Menschen wie Du und ich!

Solche ähnlichen Untersuchungen gibt es beim Bergsteigen mehrfach. Unabhängig von den Ergebnissen haben sie sicherlich eines gemeinsam: Als Einpunktstudien können sie keine kausalen Einflüsse prüfen, ob Klettern oder Bergsteigen einen Zusammenhang mit persönlichkeitsbildenden Faktoren hat. Dieses methodische Problem soll uns nicht beunruhigen, da wir ja eh glauben, zu wissen, dass Klettern einen Einfluss auf unsere Person und Psyche hat. Wenn ein Mensch von einer Sache begeistert ist, dann kann er gar nicht umhin, davon auszugehen, dass diese Sache eine „Gute“ ist. Ein leidenschaftlicher Kletterer wird dem zustimmen, alleine schon deshalb, da er ja einen Teil seines Lebens dem Klettern widmet und es damit einen Teil seiner Identität ausmacht!

Das Klettern hat mein Leben bereichert wie keine andere Erfahrung. Klettern und Alpinismus sind eine wunderbare Schule für’s Leben, ein Weg mit Herz und Seele. (Heinz Mariacher; www.heinzmariacher.com )

 

Klettern stiftet Identität.

Ein junger Mensch hat noch keine klare Vorstellung davon, wer er ist, was er kann und was er will. Und damit befindet er sich in einer grundlegenden Unsicherheit und Instabilität. Wenn ein Mensch von sich sagen kann: „Ich bin ein guter Kletterer, ich bin schon 7a geklettert, in Arco kenne ich mich ganz gut aus. Weiß, dass es das beste Eis beim Marco gibt und eigenständig in der Seilschaft gehen kann ich auch“ – dann hat er zumindest zu einer minimalen Sicherheit gefunden: Identität gibt Halt. Alle Eigentätigkeiten, die Kompetenzerwerb beinhalten, über einen längeren Zeitraum ausgeübt werden und in einem sozialen Kontext ausgeübt werden, stiften Identität. Der Beziehungskontext ist wichtig, denn der Kletterer / die Kletterin muss sich zeigen und jemand muss ihn oder sie als Kletterer/in wahrnehmen und wertschätzen. Anerkennung auf der einen und Stolz auf der anderen Seite stiften Identität.

Auch Ron Kauk war einmal ein junger Mensch, der auf seiner „Suche“ im Yosemite landete und die Wirkung des Kletterns auf ihn selbst so beschreibt:

I came here as a sophomore in high school and never went back home. This place, Yosemite, was my education. If You let it, it can imprint a value system on You. Passing a bottle of water to Your partner a thousand feet off the ground, You make sure he‘s got a good grip on it..

National Geographic, Mai 2011, S. 115-116

Wir lernen also beim Klettern – neben anderem – für andere Sorge zu tragen, eine Personfähigkeit, die man eindeutig als positiv einstufen wird.

 

Charakterbildung – Persönlichkeitsbildung.

Wenn man in die Runde fragt, wodurch Klettern zur Persönlichkeitsbildung beitragen könne, erhält man in der Regel Antworten wie: Man muss beim Klettern lernen, Risiken zu managen, man hat Verantwortung für sich und andere, muss seine Ängste überwinden, Leistung bringen, sich mit den eigenen Grenzen auseinandersetzen.

Auch Michael de Rachewiltz, ein junger Philosoph, der selbst kleine Griffe halten kann, glaubt, das beim Klettern Charaktereigenschaften gebildet werden (wie er bei einer Wanderung erzählt).

Ob diese dann in der jeweiligen Gesellschaft gerade gefragt sind, bzw. als "gute" oder "schlechte" Charaktereigenschaften oder als universale Charaktereigenschaften gesehen werden, ist eine andere Frage.

Unabhängig von der Frage, inwieweit Charakter überhaupt gebildet werden kann, betonen die Philosophen (Climbing – Philosophy for everyone; Stephen E. Schmid et al.), dass, wenn er gebildet werden kann, dann nur durch Praxis und „Gewöhnung“: Man wird nicht mutig, indem man über Mut in Büchern lernt, sondern indem man „mutige“ Taten vollbringt und damit „Mutig sein können“ ein Teil von einem selbst wird. Dies betont auch die Wagnisforschung, denn Sicherheitsstandards werden nur durch das Eingehen von Wagnissen entwickelt (Cube, F. 1995). Es geht um die richtige Mitte, die Balance zwischen den Extremen: ein 5a Kletterer der sich free solo an eine 8a wagt, ist nicht mutig sondern handelt töricht. Umgekehrt ist ein 8a Kletterer nicht mutig, weil er eine 5a free solo begeht – während dies für den geübten 5a Kletterer sehr wohl der Fall wäre. Die Autoren von Climbing – Philosophy for everyone gehen sogar so weit, zu fordern: „Charakterbildung gehört sicherlich zu den Gründen, warum Menschen klettern SOLLTEN“.

Die Auseinandersetzung mit der Wand ist im Grunde genommen eine Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den eigenen Grenzen, Zweifeln und Ängsten auf der einen Seite, und mit den eigenen Tugenden, wie Mut, Entschlossenheit und unbeugsamer Absicht auf der anderen. Sieger über die eigenen Schwächen zu sein ist das Erstrebenswerteste, das man sich vorstellen kann.

Heinz Mariacher; www.heinzmariacher.com

Natürlich ist Persönlichkeitsbildung nun so ein Schlagwort! Das aus unserer Sicht bessere Konzept wäre „Selbstwirksamkeitsförderung“. Denn die Persönlichkeit im Sinne des Charakters wird durch das Klettern nicht wirklich geprägt, vielmehr prägt der Charakter umgekehrt das, was jemand aus dem Klettern herauszieht und wie er es praktiziert. Und über die Jahre interagieren dann Klettererfahrung und allgemeine Erfahrungen so, dass dann ein Lebenskletterer wie z. B. der oben zitierte Heinz Mariacher rauskommt. Aber der wäre, wäre er nicht in Innsbruck, sondern in Hawaii aufgewachsen, wahrscheinlich Surfer geworden und würde heute die Identitätsbildung durch Surfen beschreiben, statt Klettern.

Die Überzeugung: „Ich bin in der Lage, mir wichtige Dinge durch mein Eigenhandeln auch gegen Widerstände zu erreichen“ wird Selbstwirksamkeitsüberzeugung genannt. Ein Mensch muss die Erfahrung machen, dass eigene Handlungen zu gewünschten Ergebnissen führen. Selbstwirksamkeit wird ausschließlich in konkreten Situationen und mit konkreten Menschen gewonnen. Sie gilt als wichtige Facette psychischer Gesundheit.

Diese Selbstwirksamkeit erleben Kletterer (Innen), wenn sie in die Berge, an den Fels und in die Wildnis ziehen, um dort ihrer Leidenschaft nach zu gehen. Das Kreieren künstlicher Herausforderungen, wie eine Dolomitenwand frei zu klettern, ist nur deshalb möglich, weil man sich in bestimmten Gruppen auf bestimmte Regeln geeinigt hat und unterschiedliche Kletterspiele erfordern unterschiedliche Charaktereigenschaften. Doug Robinson nennt das Phänomen, dass wir versuchen Ziele schwieriger zu machen, indem wir Technologie reduzieren „technologische Inversion“. Laut ihm sind Mut, Bescheidenheit und Ehrfurcht vor der Natur die hauptsächlichen Charaktereigenschaften die Klettern bildet bzw. stärkt.

 

Verkörperung – Embodiment

Eine typische Erfahrung beim Klettern ist das Festhalten als Voraussetzung für das Hochkommen. Für‘s Weiterkommen muss man loslassen; und zwar den Griff den man hält! Dabei wird die Gefahr des Absturzes als ständiger Zug der Schwerkraft erlebt.

 Die meisten von uns haben sich schon mal, kurz vor dem Einstieg einer Route, die Griffabfolge der Schlüsselstelle, vielleicht auch der ganzen Tour vorgestellt. Arme, Hände und Finger so bewegt und gleichzeitig mental vorgestellt, die Bewegungen korrekt auszuführen. Einerseits ist dies ein innerer Fahrplan, um Bewegungsabläufe durchzuführen, andererseits kann man einen Einfluss des Körpers bzw. von Bewegungen auf die Wahrnehmungen annehmen. So konnten Repp und Knoblich (2007) zeigen, dass die Wahrnehmung von mehrdeutigen Tonfolgen besser gelingt, wenn der Zuhörer seine Finger bewegt; d. h. er simuliert Tasten zu drücken, die eine auf- bzw. absteigende Tonfolge ergeben würde. Beim Klettern sind es keine Tasten, sondern Griffe und Tritte, die wir mit unterschiedlichem Druck und aus unterschiedlichen Winkeln belasten.

Eine Reihe von Studien konnte zeigen, dass die Wahrnehmung stark durch die eigene physiologischen Voraussetzungen beeinflusst wird. So wird z. B. das Gefälle eines Berges steiler eingeschätzt, wenn Versuchspersonen einen schweren Rucksack tragen, als wenn sie keine zusätzliche Last am Rücken mitführen (Proffitt, 2006). Auch die Wahrnehmung der Höhe einer Stufe („Wie hoch muss ich steigen?“) oder der Breite eine Tür („Passe ich durch die Tür?“) hängt von der Wahrnehmung des eigenen Körpers und damit den eigenen physiologischen Voraussetzungen ab (Warren, 1984; Warren & Whang, 1987).

Die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche beschreibt die Klinische Psychologie mit dem Begriff Embodiment. Einerseits drücken sich psychische Zustände im Körper aus, andererseits können Körperzustände psychische Zustände beeinflussen; d. h. eine bestimmte Körperhaltung wirkt sich auf Kognition und Emotion aus. Wer kennt nicht die Rechtfertigungen, Ausreden und

Erklärungen, wieso man die Tour oder Kletterstelle heute wieder mal nicht geschafft hat! Dann

stand man unten am Einstieg, wahrscheinlich war man eingeknickt; die Schulter und Kopf nach unten hängend usw. Dieses, wohl allen bekannte Erlebnis beschreibt Charly Brown am reflektiertesten:

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