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Interview erschienen in …

Die Wege, die man geht, prägen auch das Gespräch

Als hätte sie jemand für uns ausgerollt, liegt die Wiese vor uns. Zwischen langen Halmen leuchten einzelne Blüten in Rot, Blau und Weiß. Ich muss mich setzen. Der Anblick tröstet, die Gräser im Wind klingen wie die Worte meiner Großmutter: Kind, so schlimm wird es schon nicht sein. Die Sonne bricht durch den Nebel, und wenige Meter weiter unten stehen die ersten krummen Lärchen, wir haben die Baumgrenze fast erreicht. Jetzt wird alles einfacher, denke ich, und dass ich nicht mehr frieren muss. „Eine versöhnliche Wiese“, sage ich, und Pauli Trenkwalder, mein Bergführer, lacht. Er steht, lässt mich sitzen. Auf geht’s, hätte er vielleicht gerufen, ginge er mit der Zielstrebigkeit eines Bergführers vor, aber Pauli Trenkwalder, den ich Pauli nenne, weil man sich am Berg duzt, ist auch Psychologe und Coach. Er weiß, der Wiesenmoment ist wichtig, weil er mich zuversichtlich stimmt. Wir sind seit drei Stunden unterwegs, haben fröhliche und schwere Momente überstanden, Wolken durchquert und Murmeltiere beobachtet. Wir haben geredet und geschwiegen, während wir auf dem Grat der Weißspitze gewandert sind, ein Berg wie ein Kalkdreieck mit einem Kreuz auf 2714 Metern. Erreicht haben wir es nicht. Ich bin nicht nach Südtirol gereist, um Gipfel zu erstürmen, sondern um herauszufinden: Was bewirkt ein Coaching am Berg? Wie lassen sich Probleme in der Natur lösen? Hilft mir die Bewegung zu verinnerlichen, was ich mit meinem Coach herausfinde? Ich habe auch Fragen aus meinem Alltag mitgebracht: Was hält mich ab, mein nächstes Buch zu beginnen? Aber auch: Wie kann ich besser auf mich aufpassen, für mich sorgen, mit mehr Ruhe gönnen in meinem vollen Leben?

 Als mich Pauli Trenkwalder morgens in meinem Hotel in Sterzing abholt, habe ich plötzlich Angst. Ist Wandern nicht eine private Angelegenheit, genau wie meine Sorgen? Warum liefere ich mich freiwillig diesem 43-jährigen Mann aus, der zwar einen freundlichen Eindruck macht – aber wer weiß schon, ,wie er sich auf dem Berg verhalten wird?

Wir rumpeln in seinem VW-Bus über Schlaglöcher, Pauli versteht meine Angst. Sagt, am Berg sei man halt aufeinander angewiesen. Ein spontaner Kontaktabbruch unmöglich. Man brauche eine Vertrauensbasis, deshalb führe er mit seinen Klienten ein Vorgespräch. Um Nähe zu schaffen. Themen zu sondieren. Er macht das seit mehr als 16 Jahren. Zu ihm kommen Menschen mit Job- oder Beziehungsproblemen, Erschöpfte oder solche, die vor einer schweren Entscheidung stehen oder eine private oder berufliche Kurskorrektur benötigen. Menschen, die ein richtungsweisendes Gespräch suchen. Mal plant Pauli eine Tagestour, mal eine mehrwöchige Kletterreise. Manche Menschen buchen ihn zehnmal im Jahr, andere nur dann, wenn sie akuten Bedarf haben. Meistens entscheidet er, wo es langgehen soll, so wie heute. ,,Wir starten auf 1900 Metern, ziemlich weit oben. Wir haben nur einen Tag und sollten keine Zeit mit einem langen Aufstieg verlieren“, sage Pauli. Er parkt.

Nebeneinander gehen wir einen breiten Waldweg entlang. Die Wege, sie sind wichtig. Sie prägen die Gesprächssituation. Da wir uns noch nicht kennen, brauchen wir ausreichend Platz, um nebeneinander zu gehen. Ich begreife, dass der Augenkontakt am Berg freiwilliger ist als in geschlossenen Räumen. Ob ich Pauli anschaue, während ich von mir erzähle, oder den Blick schweifen lasse, ist mir überlassen. Das befreit mich, manches kommt mir auf diese Weise leichter über die Lippen. Der Weg bestimme auch das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz. Manchmal ist er so schmal, dass man hintereinandergehen muss. Dann ist keine Unterhaltung möglich, und die Wanderer sind ihren Gedanken überlassen. Auch unser Weg ist schmaler geworden. „Ich lenke jedes Treffen“, wird Pauli später sagen. Er beobachtet genau, wie ich reagiere, ob ich zurückfalle, neben dem Weg gehe oder vorauseile. Dabei hört er genau zu. ,,Das habe ich gar nicht gefragt“, sagt er einmal, als er mich bei einem wortreichen Ausweichmanöver ertappt. Wir wandern den Westrücken des Berges hinauf durch Wolken, es ist steil und kalt geworden. Ich muss nichts entscheiden, deshalb bin ich nicht hier. Ich habe einiges entschieden, und Pauli fragt mich nun: Was genau? Was hält dich davon ab, dieses oder jenes zu tun? Die Kälte kriecht mir in die Glieder, mir gefällt nicht, was ich von mir erzähle. Ich hätte gerne meine Fassung wieder, die mir der Bergmensch mit seinen einfachen Fragen raubt.

Er macht das wie nebenbei, und in der dünnen Luft kommen mir meine Antworten ganz durchsichtig vor. Ich kann ihm auf 2500 Metern nichts vormachen, der Aufstieg kostet mich Konzentration, die Situation ist intim. Meine Stimme klingt brüchig, und das ist mir peinlich. Ich laufe voraus. Pauli folgt mir still. ,,Bise du müde? Dein Gang hat sich verändert“, stellt er schließlich fest und erzählt, dass sich der seelische Zustand im körperlichen ausdrücke. Einen Klienten habe er, der verändere den Schritt, sobald er ein bestimmtes Thema anspreche. Der schlurfe fast, so bedrücke ihn das. Wie erschöpft jemand ist, lasse sich auch am Blick ablesen: „Müde und depressive Menschen lassen ihn nicht mehr schweifen. Sie bleiben bei sich, selbst wenn Gamsböcke vorbeiziehen.“ Es tröpfelt, und Pauli kontrolliert die Wettervorhersage. Wir stehen vor einem Schild: „Weißspitze 50 Minuten“, steht darauf. Missmutig stelle ich fest, dass hier oben keine Bäume mehr wachsen und nur mehr Geröll liegt. Pauli fragt lächelnd: ,,Ist dir der Gipfel wichtig?“ Meine Stimmung scheint wie verwoben mit den tiefhängenden Wolken, und da teilen Pauli und ich Schokoladenkekse und Nüsschen. Das stabilisiert mich. Als Team entscheiden wir, zur Hühnerspielhütte abzusteigen. ,,Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?“, frage ich kurz darauf. Pauli schaut nur, und ich muss lachen. Was für eine Frage. Er ist in den Bergen aufgewachsen, in einem der Täler, die unter uns liegen. Schon sein Vater war Bergsteiger, auch Bergretter. Dass Berge gefährlich sind, hat Pauli früh verinnerlicht, und trotzdem hat er zusammen mit seinem Bruder „schwer geklettert“. Violett war der erste eigene Karabiner, den ihm sein Vater geschenkt hat, und groß der Wunsch, eines Tages damit Geld zu verdienen. Er studierte Psychologie in Innsbruck, machte die Bergführerausbildung, Berge und Menschen sind seine Lebensthemen. Am liebsten gehe er zu zweit los. Zu zweit bestehe die Möglichkeit, dass „etwas entstehe“, erklärt er, leichter als in einer Gruppe.

 Die Herausforderung sei es, die Menschen im Guten zu entlassen. Jemanden aufzuwühlen sei nicht so schwer, wie ihn aufzufangen. Pauli unterrichtet angehende Bergführer darin, wie sie am besten mit sperrigen Gästen umgehen. Was zu tun ist, wenn jemand in Panik ausbricht. ,,Panik ist einfach zu viel Angst“, sage Pauli ruhig, ,,und damit kann man lernen umzugehen.“ Er zeige den Menschen, die mit ihm aufsteigen, wozu sie in der Lage sind. Selbstwirksamkeit heißt das in der Psychologie. Sie sehen den Weg, den sie zurückgelegt haben, und erfahren, dass sie erreichen können, was sie sich vornehmen. Das sitzt ihnen buchstäblich in den Knochen, wenn sie in ihr Alltagsumfeld zurückkehren.

 Knödel aus Polenta und Gorgonzola, dazu Krautsalat – der Hühnerspielhütte essen wir frisch Zubereitetes, trinken selbst gemachte Holunderlimonade und blicken auf die Sterzinger Bergwelt. ,,Lass mich in Sterzing einfach am Bahnhof raus“, bitte ich Pauli, und er entgegnet lächelnd: ,,Sind wir denn schon unten?“ Sind wir nicht, vor uns liegen noch eine halbe Stunde Abstieg. Seine Frage holt mich zurück in die Gegenwart. Wir schweigen, und ich begreife, dass Stille zu einem Coaching am Berg dazugehört. Pauli Trenkwalder will mich nicht optimieren, sondern mir eine Begegnung ermöglichen. Was ich gelernt habe? Wird sich zeigen. Ob ich etwas in meinem Leben verändern werde? Vielleicht. Ziele habe ich nicht notiert, aufgestiegen bin ich trotzdem, und zwar ziemlich hoch. Stunden später stehe ich zwischen Grenzbeamten am Brenner und warte auf meinen Anschlusszug nach München. Er hat 40 Minuten Verspätung. Ich zähle die durchrauschenden Güterzüge. Es sind zwei. Die Anstrengung des Tages macht mich schwer, eine wohlige Erschöpfung. Ich muss an die Blumenwiese denken. Und daran, dass es keinen besseren Ort gibt, um sich selbst de Freundschaft anzubieten, als im weichen Gras unterhalb des Gipfels, kurz vor den ersten windschiefen Lärchen.

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