Interview erschienen in Human Facts, 08/2025
Die Haltung am Berg
Im Gespräch:
Pauli Trenkwalder
Bergführer & Psychologe
Interview:
Peter Plattner
In seinem Arbeitsleben verbindet der Südtiroler Pauli Trenkwalder seine beiden Professionen und Leidenschaften: Bergführer und Psychologe. Dabei beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema Entscheidungsfindung – auch im alpinen Kontext und wie man diese in Ausbildungen schulen kann. Ihn dazu zu bewegen darüber einen Beitrag zu verfassen oder beim Alpinforum zu sprechen, ist schwierig: „Das sollen andere machen, die das besser können“. Stimmt nicht, aber versuchen sie gegen einen guten Psychologen zu argumentieren. So haben wir Pauli zu diesem Interview überredet und ihn gefragt, wie Menschen Entscheidungen treffen, mit Fehlern umgehen und was eine gute Führungshaltung ausmacht.
Neben dem persönlichen Wissen, Können und der Erfahrung wird z. B. bei der Entscheidungsfindung und Beurteilung der Lawinengefahr regelmäßig auf die Bedeutung von „human factors“ hingewiesen. Wie relevant sind diese Faktoren?
Ich bin froh, dass in den Ausbildungen schon früh erkannt wurde, dass diese „weichen“ Faktoren wichtig sind und diese auch mehr und mehr behandelt werden. Für eine gute Entscheidungsfindung braucht es beides: gutes Faktenwissen und Erfahrung sowie auch ein wenig psychologisches Hintergrundwissen, um einordnen zu können, wie ich selbst funktioniere, wie Menschen Entscheidungen treffen und wo es Fallen gibt. Das alleine reicht aber nicht aus, zusätzlich braucht man auch eine Unterstützung z. B. durch gute Ausbildung. Schließlich geht es darum zu lernen, wie man seine Entscheidungen und Ziele so gestalten und erreichen kann, dass sie individuell zu einem passen, dass sie z. B. der persönlichen Risikobereitschaft, respektive dem Sicherheitswunsch, entsprechen. Klarerweise müssen wir hier immer zwischen privatem Bergsteigen und geführten Touren unterscheiden.
”Im geführten Kontext haben Entscheidungen, die zu drastischen Konsequenzen führen, keinen Platz.
Aber die Lawinengefahr bleibt die gleiche …
Ja, die Lawinengefahr ist die gleiche. Aber wenn ich für mich privat unterwegs bin, dann treffe ich meine Entscheidungen je nachdem, was ich mir zutraue und welches Risiko – auch ein höheres – ich eingehen möchte. Das kann und darf ich so entscheiden, auch wenn die Konsequenzen im Endeffekt ernster oder fatal sind. Im geführten Kontext haben solche drastischen Konsequenzen keinen Platz. Hier muss ich alles in die Waagschale werfen, um gute Entscheidungen im Sinne von „vorsichtig unterwegs sein“ zu treffen. Das Hauptaugenmerk wird dabei natürlich auf das primäre Ziel, den Gipfel oder die Abfahrt, gelegt. Daneben schwingt aber auch – zumindest für mich – ein wichtiges Nebenziel mit, nämlich wieder heil unten anzukommen, damit die Menschen auch von ihrem Erlebnis berichten können.
In der letzten Ausgabe von analyse:berg haben wir uns die Unfälle im Führungskontext näher angesehen. Dabei haben wir festgestellt, dass die meisten dieser Unfälle nicht im Kontext mit seiltechnischen Herausforderungen – Gehen am kurzen Seil, Mitreiß- oder Abseilunfälle, etc. – passieren, sondern dass Berg- und Skiführer vor allem Probleme mit der Beurteilung der Lawinengefahr haben. Danach haben wir oft gehört, dass dafür der Druck der Gruppe vermutlich mitverantwortlich ist. Wie siehst du das?
Allein das Wort „Gruppendruck“ ist in Bergsteigerkreisen sehr bekannt, weil das jeder gleich einmal in den Mund nimmt. Aus meiner Erfahrung kann ich aber sagen, dass vor allem im Führungskontext Gruppendruck komplett überbewertet wird. In meiner Wahrnehmung findet dieser nicht statt. Es kann durchaus sein, dass in mir selbst als Führungsperson ein Druck stattfindet, der lautet: „Ich bin ein guter Bergführer, eine gute Bergführerin, wenn ich das Ziel erreiche, also von A nach B komme.“ Weniger aber, dass die Gruppe auf mich als Führungsperson einen Druck ausübt. Wenn ich frech bin, dann sage ich sogar, das wird oft als Ausrede benutzt. Im privaten Kontext kann man allerdings schon beobachten, dass sogenannte „Risikoschub-Phänomene“ stattfinden, wodurch die ganze Gruppe risikoreicher unterwegs ist. Im geführten Kontext sollten die Rollen aber klar verteilt und der Führungsperson bewusst sein, dass kein Druck auf ihr lastet oder auf sie ausgeübt wird, sondern dass der empfundene Druck Entscheidungen zu treffen, mit den Unsicherheiten in ihr selbst zu tun hat.
”Und es ist eben diese Frage ,Was hat das mit mir zu tun?‘ ,die mich als Psychologen interessiert.
Es gibt Unfälle, bei denen junge Berg- und Skiführer sehr exponiert und steil ins offensichtliche Lawinengelände gefahren sind. Mit oder ohne Druck stellt sich dabei die Frage der Notwendigkeit. Wie kannst du dir erklären, dass Personen mit hochwertigen, aufwändigen Ausbildungen sich in ein solches Gelände wagen oder glauben, sie müssten das tun, um ihre Kunden oder sich selber zufrieden zu stellen?
Die Antwort kann nur eine Spekulation sein und ich weiß nicht, ob man sich darauf einlassen soll. Meine Frage ist: Haben wir Bergführer und Bergführerinnen eigentlich Führungsprinzipien, die beinhalten, wie wir unsere Arbeit gestalten und wie wir im Gelände Entscheidungen treffen wollen? Statt „Führungsprinzipien“ könnte man auch „Führungshaltung“ sagen. Eine solche Haltung kann z. B. sein: „Ich bin ein guter Bergführer, wenn ich die steilste Rinne, bzw. den schönsten Berg oder die wildeste Tour führe.“ Wenn die Antwort auf die Frage, was eine gute Führung ist bzw. was einen guten Bergführer ausmacht, über die Schiene „wild, exponiert und gewagt“ läuft, so ist das nicht mein Ansatz. Ich sehe das nicht so.
Berufsgruppen, die in einem Risikoumfeld Verantwortung für andere Menschen übernehmen, haben sich eine solche Haltung, solche Prinzipien zu eigen gemacht und standardisiert. Sie werden so ausgebildet, dass sie nach einem bestimmten Mindset arbeiten und entscheiden. Implizierst du, dass es das bei Bergführern nicht gibt?
Ja, aber ich kann das nur aus meiner Perspektive und Wahrnehmung beurteilen. Von mir als Bergführer würde ich sagen, dass ich im Führungskontext oft sehr defensiv unterwegs bin. Es ist nicht immer leicht, Entscheidungen zu treffen, die lauten: „Bis hier her und nicht weiter“ – und dann gehen 25 andere Leute weiter an dir vorbei. Dadurch kommt man leicht in ein Gefühl der Rechtfertigung und der Erklärung, obwohl die Kunden das meistens gar nicht brauchen. Es hat etwas mit einem selbst zu tun. Und es ist eben diese Frage „Was hat das mit mir zu tun?“, die mich als Psychologen interessiert. Beitragen zu können, dass diese Frage ein wichtiger Teilbereich in der Ausbildung ist, ist mir wichtig.
Und was erklärst du in einer solchen Situation deinen Kunden?
Tatsächlich hat es nicht nur mit Erklärung oder Erklärungsnot zu tun. Vielmehr geht es um die Haltung, wie ich meinen Führungsalltag lebe. Diese Haltung nehmen Menschen wahr. Das ist der Grund, warum manche Leute mit mir gehen und warum andere nicht mit mir gehen. Das ist eine Frage der Ausdifferenzierung. Mitteilen meint, transparent sein und seine Führungsprinzipien laut ansprechen. Ein Führungsprinzip kann z. B. – wie bereits erwähnt – sein, den Gipfel zu erreichen. Sollte sich aber das Wetter anders verhalten als die Prognose, sprich eine Front kommt früher als angekündigt, dann lautet mein Führungsprinzip: Nein, ich will mit meinen Gästen nicht im Whiteout und in der Kälte zum Gipfel gehen, auch nicht für eine Stunde. In einer solchen Situation kann ich zu dem Punkt kommen, wo ich durch ständiges Abchecken der Situation die Entscheidung treffe, dass wir den Gipfel nicht erreichen werden, dass wir umdrehen, dass wir dem Hintergrundziel „heil unten ankommen“ folgen. Für meine Kunden muss ich meine Entscheidung eben auch operationalisieren: Es reicht nicht zu sagen: „Wenn es kalt wird, drehen wir um.“ Sondern ich erläutere im Detail, dass ich oben am Grat die Kälte nicht einmal für eine Stunde gemeinsam mit ihnen aushalten möchte.
”Es geht um die Haltung, wie ich meinen Führungsalltag lebe. Diese Haltung nehmen Menschen wahr.
Wie vermittelt man diese Haltung in der Ausbildung?
Haltung hat immer auch mit Verhaltensänderung zu tun und das ist ein langer Prozess. Der erste Schritt ist das Vorleben. Ich kann als Ausbilder nur weitergeben, wie ich selber die Welt sehe. Haltung hat schließlich immer etwas mit Werten zu tun. Es hängt also davon ab, wie ich für mich meinen Wertekompass ausrichte, wie ich mein Führen sehe.
In den Ausbildungen ist ein Argument, verschiedene Ausbilder zu haben sei gut, um mehrere Führungsstile zu sehen. Andererseits berichten Kursteilnehmer, dass sie dadurch komplett unterschiedlichen Herangehensweisen, Mindsets und Risikowerte vermittelt bekommen.
”Als Berufsgemeinschaft wollen wir uns zwischen den Leitplanken, die vorgeben, wie wir mit Unsicherheiten und Entscheidungen umgehen, bewegen.
Kann das dennoch ein Vorteil sein, oder sollte in einer Ausbildung zumindest die grundlegende Haltung dieselbe sein?
Diese Erfahrung des Erlebens unterschiedlicher Ausbilder habe ich auch bei meiner eigenen Ausbildung gemacht. Mehrwert und Vorteil ist, dass man unterschiedliche Persönlichkeiten sieht und deren Umgang in der unsicheren Umgebung. Davon kann man definitiv etwas für sich mitnehmen. Gleichzeitig muss die Ausbildung aber definieren, zwischen welchen Leitplanken sie sich bewegt. Es darf also unterschiedliche Individuen als Ausbilder geben, aber als Berufsgemeinschaft wollen wir uns zwischen den Leitplanken, die vorgeben, wie wir mit Unsicherheiten und Entscheidungen umgehen, bewegen. Ob das nun in den verschiedenen Ausbildungen aktuell genauso umgesetzt wird, kann ich nicht beurteilen. Wenn es aber solche Fälle von offenbar großer Risikobereitschaft bei den frisch Ausgebildeten gibt, dann sollte man dies als Möglichkeit sehen, nicht nur in Rechtfertigung zu gehen, sondern hinzusehen, wo man ansetzen könnte, wo man die Ausbildung verbessern könnte.
Du wirst von einigen Bergführerverbänden immer wieder angefragt, eben diese gemeinsame Haltung der Berufsgemeinschaft zu thematisieren, manchmal auch im Unfallkontext. Wie gut funktioniert das?
In der Schweizer Bergführerausbildung bin ich als externer Referent zum Thema Leadership, einem Indoormodul, bei dem es um psychologische Themen geht, dabei. Meine Wahrnehmung ist, dass dieses Thema den Schweizer Bergführern wirklich ein Herzensanliegen und ein Kernthema ist und mein Input sehr wertgeschätzt wird – sowohl von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen als auch vom Verband. Etwas anderes ist es natürlich, wie ein Ausbilder das dann draußen im Gelände vorlebt und damit umgeht. Das ist aber auch eine Herausforderung, denn er bewegt sich im Spannungsfeld einerseits das Thema zu fördern, aber es andererseits in die klassische Führungsarbeit einzubauen. Denn Fördern bedeutet hier, in einen Bereich hineinzugehen, in dem gerade eine Entwicklung stattfindet, d. h. man muss auch über die etablierte Komfortzone hinaus gehen, in der man sich als guter Führer ja zum Glück oft befindet.
Wie sieht dieser Input konkret aus?
Als eine Art roter Faden dient die Frage, was gute Führung ausmacht. Reale Fallbeispiele sind ein zentrales Element und werden sehr geschätzt. Teilweise vereinfachen wir diese ein wenig, damit sich jeder Teilnehmer, jede Teilnehmerin auch gut in die beschriebenen Situationen hineinversetzen kann. In Kleingruppen wird dann erarbeitet, wie man in diesen Situationen entscheiden würde. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um ein „Sich-Ausprobieren“ auf einer sicheren Bühne, um zu sehen, welche Konsequenzen zu erwarten sind. Im Prinzip geht es dabei um das Etablieren einer Fehlerkultur. Aus der Forschung weiß man, dass man aus den eigenen Fehlern nicht so viel lernt, sondern aus den Fehlern anderer am meisten herauszieht. Außerdem sprechen wir über Angst, über Panik, über Führungsprinzipien, über Entscheidungsfindungen usw. Auf jeden Fall ein spannendes zweitägiges Modul.
Ich nehme das genau umgekehrt wahr: Aus den Fehlern anderer zu lernen, ist für mich schwer. Ich lerne am meisten, wenn es für mich persönlich schmerzhaft ist oder ich emotional betroffen bin. Dem würdest du also widersprechen?
Nein, dem widerspreche nicht ich und ich möchte auch deine Wahrnehmung nicht anzweifeln, aber in der psychologischen Forschung ist man eben durch Untersuchungen zu dieser Ansicht gekommen. Warum lernt man aus eigenen Fehlern nicht so gut? Das hat vor allem damit zu tun, dass man seinen Selbstwert aufrecht erhalten möchte. Man wird also alles dafür tun, sein Selbstbild nicht zu beschädigen und die Sache schönzureden oder
”Warum man aus eigenen Fehlern nicht so gut lernt? Das hat vor allem damit zu tun, dass man seinen Selbstwert aufrecht erhalten möchte.
”Um aus den eigenen Fehlern zu lernen, braucht man eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstreflexion.
zu rechtfertigen. Wenn es aber um Fehler geht, die von anderen gemacht worden sind und die Person selbst von diesen Fehlern berichtet und das darlegt, dann können Menschen das leichter annehmen. Ich muss mich nicht mit dem eigenen Selbstbild bewusst oder unbewusst beschäftigen. Um aus den eigenen Fehlern zu lernen, braucht man eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstreflexion und muss vielleicht auch in den Austausch mit anderen gehen.
Ich spiele darauf an, dass bei Vorträgen oder auch in den sozialen Medien viele Lawinenunfälle gezeigt werden. Man sieht gruselige Bilder, hat dazu aber wenig Kontext. Ich denke mir dabei oft: „Zum Glück ist das mir nicht passiert“. Reichen Bilder oder ein schauriges Gefühl schon aus, um etwas zu lernen?
Ich bin kein Medienexperte, aber für mich klingt das eher nach Ausrede. Das ist keine Auseinandersetzung mit dem wirklichen Drama, welches bei so einem Lawinenunfall passiert. Hier fehlen die Fakten, das komplette Hintergrundgeschehen, wie und warum was wozu geführt hat. Das würde ich also nicht als Lernen bezeichnen, sondern eher als Ausrede, dass ich mir das voyeuristisch ansehen darf.
In den letzten Jahren hat sich beim Thema „Lawine“ viel getan: angefangen von Munter und der Kommunikation der Lawinenprobleme bis hin zur einheitlichen Sprache der Lawinenwarndienste. Man bekommt viele Informationen sehr gut aufbereitet. Merkst du bei deinen Kursen, dass die Teilnehmer fachlich besser und kompetenter, vielleicht auch entspannter damit umgehen?
Was ich auf jeden Fall bemerke, ist, dass Leute, die sich für das Thema interessieren, heute deutlich besser vorbereitet sind und ein umfangreicheres Wissen haben als früher. Früher hatte der Bergführer das komplette Fachwissen, sogar „Geheimwissen“ inne, etwas, das man als normaler Skitourengeher gar nicht erlangen konnte. Heute besteht meine Aufgabe in der Ausbildung oft darin, jenes Wissen, welches sich die Teilnehmer selbst angeeignet haben, einzuordnen und abzuwägen, wo was hingehört. Es gilt herauszufinden, ob man Moderator oder Aufklärer ist oder derjenige, der strukturiert und noch einmal unterstützt, was welche Gewichtung bekommt. Menschen haben heute jedenfalls viele Möglichkeiten, sich gut zu informieren. Aus diesem Grund muss ich inzwischen aber auch selbst besser vorbereitet sein, muss meine Ausführungen und Argumente immer belegen können. Dabei lege ich außerdem viel Wert auf Transparenz. Die Leute wollen mitgenommen werden, sie wollen Dinge verstehen und warum soll ich Themen und Kontexte nicht so vereinfachen, dass sie sie besser verstehen oder einordnen können? Damit ist der nächste Schritt vorbereitet, nämlich, dass sie sich noch tiefer informieren wollen. Ich sehe also die Rolle von uns Bergführern und Bergführerinnen auch darin, Dinge einzuordnen und eine Orientierung zu geben. Dafür muss man aber natürlich selbst sehr gut ausgebildet und auf dem aktuellen Stand sein.
Ich kann mich selber informieren, ausbilden und eigenverantwortlich entscheiden oder die KI entscheiden lassen, von der ja manche – auch was die Lawinengefahr betrifft – glauben, dass sie „besser“ ist. Wie erklärst du dir das?
Ich glaube, dass es für viele Menschen einfach eine Erleichterung ist, wenn jemand anderer Entscheidungen für sie trifft – ob das eine KI oder sonst jemand ist.
Gibt es unter diesen beiden Gruppen eine gemeinsame Sprache, oder sind das zwei verschiedene Welten?
(Seufzt) Eine Pauschalantwort ist hier nicht möglich …
… aber immer noch gibt es tapfere Kämpfer, die der Meinung sind, dass bei der Lawinenbeurteilung die probabilistischen Methoden besser als die analytischen oder intuitiven sind …
”Meine Erfahrung ist, dass unsere Kunden mit viel weniger zufrieden und glücklich sind, als wir Führungspersonen oft glauben.
… was genau einen Konflikt beschreibt. Das ist wie Pingpong spielen: Ich habe recht, du hast recht. Wenn ich den Fokus auf die Menschen lege, die draußen Entscheidungen treffen wollen, dann geht es nicht darum, ob du oder ich recht haben, sondern darum, dass man versucht herauszufinden, was vom aktuellen Stand der Wissenschaft bis hin zur Wahrscheinlichkeit – also von der Analytik bis hin zur Probabilistik – greifbar und überhaupt dienlich ist. Ich starte mit meinen Gästen schließlich auch nicht mit dem Hauptziel, unter keine Lawine zu kommen. Wir gehen auf Skitour, um gemeinsam ein schönes Erlebnis zu haben. Zu meiner Aufgabe gehört es, Entscheidungen in dieser unsicheren Welt der Lawinengefahr zu treffen, aber Menschen gehen nicht primär auf Skitour, um Lawinen auszustellen.
Manchmal hat man aber dieses Gefühl und man muss sich fast schämen, wenn die Lawinengefahr nicht das permanente Hauptthema ist. Woher kommt das?
Es gehört durchaus zu meiner Arbeit als Bergführer, dass das Thema „Lawine“ im Hintergrund ständig mitläuft. Das ist schließlich Teil meines Kompetenzbereichs, ich darf das nicht ausblenden. Aber das ist nicht der Fokus, mit dem ich auf Skitour gehe – schon gar nicht, wenn ich privat unterwegs bin. Der Fokus ist, dass meine Kunden eine schöne und gute Zeit erleben! Und das bedeutet nicht, dass es eine ultimativ mega riesige Tour ist. Meine Erfahrung ist, dass unsere Kunden mit viel weniger zufrieden und glücklich sind, als wir Führungspersonen oft glauben.
Die Zahl der Lawinentoten war immer schon gering und sinkt weiter, tödliche Skitourenunfälle aufgrund von Herz-Kreislauf-Problemen nehmen zu und regelmäßig sterben Skitourengeher durch Stürze und Abstürze. Dennoch ist für die Skitourencommunity selbst und für die Medien der Lawinenunfall unangefochten das mit Abstand prominenteste Thema und Problem. Man leistet sich die ganze Infrastruktur der Lawinenwarndienste, um primär die Skisportler zu servicieren. Warum ist „die Lawine“ so präsent?
Ich glaube, für Menschen ist Natur generell und im Besonderen das Erleben der Bergwelt etwas Gewaltiges. Zum großen Teil ist sie schön, aber auch imposant – und von imposant wird sie zu gewaltig. Im Hintergrund rauscht immer mit, dass es jederzeit vom „jetzt schön“ zum „jetzt tödlich“ oder zumindest gefährlich werden kann. Menschen, die sich der Natur aussetzen, erleben das so. Ich kann allerdings die Dosis wohlen. Wenn man eine Modeskitour geht, auf der 150 Leute unterwegs sind, dann passiert das „sich der Naturgewalt aussetzen“ in einer anderen Dosis, als wenn ich allein in einem anspruchsvollen Gelände unterwegs bin und die Tour selbst anspure. Ich glaub, dass sich Mensch darin recht gut regulieren können, im Sinne von: Wie viel dieser Gewalt der Natur will ich mich aussetzen, wie viel möchte ich davon erleben oder spüren?
Und um beim Thema Lawine zu bleiben: Unsicherheit hat mit Kontrollverlust zu tun. Wenn ich aber etwas im Griff habe und ich das Gefühl habe, ich kann es kontrollieren – auch wenn das vielleicht gar nicht stimmt –, gibt mir das das Gefühl handlungsfähig zu bleiben und so draußen weiter unterwegs sein zu können. Allein, wenn man sich die Sprache ansieht: Man hat das „Lawinenrisiko“, man betreibt ein „Risikomanagement“ und zum Schluss kommt ein „Restrisiko“ heraus. Es gibt Menschen, die können mit dem Restrisiko leben. Der schönere Begriff anstelle von Risiko ist meiner Ansicht nach „Unsicherheit“. Risiko ist gemäß Definition kalkulierbar, Unsicherheit nicht. Das macht es zwar nicht besser, aber ich fühle mich ehrlicher damit. Dieses Verständnis beeinflusst meine Haltung, sowohl persönlich als auch im professionellen Kontext.
”Unsicherheit hat mit Kontrollverlust zu tun.
Bergsteigen ist mittlerweile zum Bergsport und damit messbar geworden. Höhenmeter, Zeiten, Neuschneemengen, Skitourenflugreisen und Likes lassen sich besser verkaufen und scheinen vielen wichtiger zu sein, als eine gute Zeit am Berg mit Freunden. Du hast angesprochen, dass aber eben diese Qualität für private und geführte Gruppen das eigentliche Ziel sein müsste, auch im Unfallkontext. Wie lässt sich das erreichen?
Ich denke, man muss akzeptieren, dass viele verschiedene Sachen stattfinden dürfen. Ob ich das gut oder schlecht finde, ist nur eine persönliche Meinung, die nichts zur Sache tut. Ich für mich möchte aber definieren, wie ich mein Bergsteigen betreiben will. Allerdings muss ich für meine Definition nicht andere abwerten und mich aufwerten. Ich weiß aber, mit welchen Werten ich im professionellen Kontext Menschen draußen begleiten möchte. Ob ich damit erfolgreich bin – sprich, ob ich davon leben und mich ernähren kann –, ist eine andere Frage. Ich habe hier also meinen Grundsatz mit meinen Werten und Vorstellungen, andere dürfen es aber anders machen; im privaten Kontext wohlgemerkt. In der Berufsgemeinschaft der Bergführer hingegen kann man nicht pauschal sagen, jeder soll es machen dürfen, wie er will. Als Profis müssen wir eine Entwicklung zeigen, uns anpassen, gelegentlich an Stellschrauben drehen, um auch immer die Kompetenzträger zu sein. Wenn du zuvor von den Unfällen im Führungskontext berichtet hast, weiß ich nicht, wie ich mit diesen Zahlen umgehen soll. Gut sehen sie nicht aus.
Diskutiert man darüber, argumentieren einige Kollegen, dass es ihre Aufgabe sei, ihren Kunden gegen Honorar etwas zu bieten, das diese sich alleine nie trauen würden. Deshalb fahren sie natürlich steiler und exponierter.
Ich kenne und verstehe diese Aussage, aber ich halte dagegen, dass wir als Bergführer nicht davon reden können, dass es die Kunden sind, die das verlangen und dafür zahlen. Ich definiere selbst, wie Bergführern stattfindet und andere Dinge finden dann eben nicht statt. In einem Kurs kann ich dich gut ausbilden, kann ich dir viel Fachwissen und Technik vermitteln, damit du für dich persönlich dann jene Dinge tun kannst, die du gerne machst. Ich verkaufe als Bergführer keine Absolutionen. Kunden, die das möchten, führe ich nicht.
Okay, ich möchte meine Kunden also ausbilden. Was muss ich als Bergführer dafür mitbringen? Erfahrung, hohes Eigenkönnen oder pädagogisches Geschick und Empathie?
Ich drehe den Spieß um und stelle mir vor, ich bin selbst wieder in der Ausbildung. Was möchte ich von einem Ausbilder, von einer Ausbilderin mitnehmen? Natürlich muss diese Person für mich fachkompetent sein – das ist die Grundlage. Darüber hinaus muss diese Person Fähigkeiten hinsichtlich Führungstechniken haben und diese auch methodisch und didaktisch geschickt transportieren können, schließlich möchte ich diesen Beruf erlernen. Ich erwarte mir also, dass mir diese Person die einschlägigen Sachverhalte so gut oder so lange erklärt, bis ich sie verstanden habe und umsetzen kann. Im Weiteren ist es zentral, wie diese Führungsperson mit Menschen umgeht. Der Beruf hat immerhin mit Menschen zu tun und diese „weichen“ Faktoren sind ein zentraler Bestandteil im Führungskontext, z. B. die Bewältigung stressiger Situationen, der Umgang mit schwierigen Gästen, mit Rückmeldungen u. v. m. Wenn wir ein solches Konglomerat an Ausbilder haben, würden wir sagen: wunderbar! Wenn eine Person das ein oder andere nur mehr oder weniger kann, dann findet ein Ausgleich im Ausbildungsteam statt und das darf auch absolut so sein. Es darf die Person geben, die kompetenter im Fachwissen ist und es darf die Person geben, die kompetenter im Führungskontext ist. So würde ich mir das vorstellen und ich kenne auch genau solche Ausbilder und Ausbilderinnen.
Macht es in der Ausbildung und Arbeit einen Unterschied, ob jemand hauptberuflich als Bergführer unterwegs ist oder das nur gelegentlich als Nebenjob oder Hobby macht?
Ich bin der Meinung, eine Motivation in der Ausbildung muss sehr wohl sein, dass ich das Bergführen als Hauptberuf ausüben möchte. Das muss es nach der Ausbildung auch weiterhin bleiben, da nur über diese Berufsschiene auch eine gute, durchgängige Qualität garantiert werden kann. Die zuvor beschriebenen Entwicklungen und Neuerungen in der Ausbildung lassen sich auch nur über das Engagement von hauptberuflichen Bergführern und Bergführerinnen durchführen, Hobbybergführer haben daran verständlicherweise weniger Interesse.
Bei Unfällen sind wir Sachverständige aufgerufen, aus der ex-ante-Sicht eine Beurteilung abzugeben. Wie kann man Unfälle im Nachhinein so aufbereiten, dass man aus den Fehlern anderer etwas lernen kann?
Die Frage, die sich mir aufdrängt: Sind Unfall und Fehler das Gleiche? Wir haben vorher darüber gesprochen, dass man aus Fehlern anderer lernen kann. Sicher kann man davon ausgehen, dass es, wenn es zu einem Unfall kommt, im Vorfeld irgendeinen Entscheidungsfehler gegeben hat …
… aber es führen ja nicht alle Fehler zu Unfällen. Aber wenn ein Unfall passiert ist, geht es darum herauszufinden, welche Fehler kausal waren und ob sie vermeidbar gewesen wären.
Man muss nur aufpassen, dass man nicht unter dem „Rückschaufehler“ leidet. Blickt man auf einen Unfall, muss man sich in die Situation der Führungsperson, die in diesem Moment nicht wissen konnte, wie die Sache ausgeht, versetzen. Es braucht empathisch dafür Verständnis, warum und wie die Person entschieden hat. Also nicht eine verurteilende Haltung, denn es ist davon auszugehen, dass diese Person in die Berge gegangen ist, um ihre Sache gut zu machen. Hätte sie gewusst, dass sie in einen Unfall hineinläuft, hätte sie anders entschieden.
”Die Menschen haben vergessen, dass man in den Bergen umkommen kann.
”Man muss nicht jeden Unfall analysieren und an die Öffentlichkeit bringen.
Was ist der Grund, warum Bergsteiger, die selbst Respekt oder Sorge haben müssten, das ihnen mal etwas ähnliches passieren kann, nach Unfällen schnell vorverurteilen und nicht abwarten, bis man alle Umstände kennt?
Es sollte aber auch nicht so sein, dass man niemals etwas sagen darf, weil es mir selber auch passieren könnte – das kann es auch nicht sein … Aber deine Frage spielt auf die Motivation an, warum Menschen das tun? Ich glaub, man muss nicht jeden Unfall analysieren und an die Öffentlichkeit bringen. Schließlich gibt es unterschiedliche Zuständigkeiten, in Österreich etwa die Alpinpolizei, die den Fall aufnimmt. Es gibt Gutachter, die den Fall gemäß ihrer Profession anschauen, es gibt die Zuständigen, die den Fall rechtlich aufarbeiten usw. Nicht aus jedem Unfall muss man eine Lehre ziehen. Beim Abseilen weiß man, dass man abstürzen kann und auch wie der entsprechende Unfallmechanismus aussieht. Das ist zigmal veröffentlicht, bekannt und wird ausgebildet – was soll man da also noch lernen?
Aber wo bleibt die Empathie nach solchen Unfällen …
… Empathie ist für mich in erster Linie, dass man zuerst an die verletzte oder gar tödlich verunglückte Person denkt, die irgendwo irgendjemandem fehlt. Dafür Mitgefühl zu haben ist das, was ich zeigen möchte. Zu diesem Mitgefühl gehört auch, dass man das nicht öffentlich an die große Glocke hängt. Wenn nach einem Unfall Menschen sofort mit Schuldzuweisungen und Besserwisserei zur Stelle sind, dann impliziert das vielleicht, dass sie es besser gewusst hätten. Ich weiß auch nicht, warum Menschen das tun. Aber wenn man sagt: „Das hätte er erkennen müssen“, dann bedeutet das: „Ich habe es gesehen, ich hätte die Kontrolle gehabt und dadurch wäre alles nicht so schlimm gewesen.“ Ich glaube, Menschen machen das, weil es sonst nicht „aushaltbar“ ist. Schwierige Situationen auszuhalten ist echt schwierig. Menschen gehen in die Rechtfertigung, in die Verurteilung. Letztendlich ist es ein Abwerten – sprich ich werte die Gegenseite ab und werte mich damit auf.
Muss man akzeptieren, dass man beim Skitourengehen unter einer Lawine sterben kann?
Das hat nichts mit Akzeptieren zu tun. Eine Lawine ist tödlich. Ich glaube, Menschen haben vergessen, dass man in den Bergen umkommen kann. Wenn ich privat in die Berge gehe, dann ist das auch vollkommen in Ordnung, anders ist es im Führungskontext. Die Naturgewalt kann eben auch dazu führen, dass die Tour nicht gut endet. Menschen beschreiben das da draußen immer als so schön und fühlen sich immer so frei und alles ist immer so positiv besetzt. Das ist es auch, alles in Ordnung. Aber im Hintergrund schwingt immer mit, dass es von jetzt auf sofort von schön in brutal wechseln kann. Und im Brutalen der Natur steckt eben auch der Tod – das gehört dazu. Als Bergführer möchte ich dort aber nicht hinkommen.