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Interview erschienen in …

Felsenfest

Berge nützen dem menschlichen Geist und fördern die innere Einkehr. Aber muss man deshalb gleich mit einem Psychologen in Abgründe schauen? Unsere Autorin hat ein Angebot des Kastelruther Hotels Schgaguler getestet.

Von Esther Kogelboom

Meine Couch: der Berg, so lautet Pauli Trenkwalders Parole. Gerade ist aber die Couch seine Couch, der Psychologe und Bergführer sitzt auf einem lodengrünen Outline-Sofa von Muuto.

In der Bar des Schgaguler Hotels bleibt die Zeit stehen. Die scharfkantigen Eiswürfel aus der japanischen Hoshizaki-Maschine schmelzen extra langsam im Aperitivo, während draußen Nebelgardinen die Umrisse des Schlern – Massivs verhüllen.

Trenkwalder spricht mit der kleinen Reisegruppe über die Konsistenztheorie nach Grawe, ein Modell, das die psychologischen Grundbedürfnisse des Menschen beschreibt, und die Maslowsche Bedürfnispyramide. Er tippt sich schließlich an die Stirn: „Hier vorn im Hirnkaschtl, da ist der präfrontale Cortex, zuständig für Kontrolle und Orientierung.“

Hirnkaschtl-Ferien im Südtiroler „Kaschtelruth“, wie die Einheimischen ihr Bergdorf nennen. Das Schgaguler, gelenkt von vier Geschwistern in zweiter Generation, umgebaut von Architekt Peter Pichler, strahlt ohne Geranien und Herrgottswinkel. In unverblümter Klarheit und Konzentration ragt es, hellgrau wie Dolomit, zwischen den verschachtelten traditionellen Bauten des Dorfes heraus, höher ist nur der frei stehende, klassizistische Turm der Pfarrkirche St. Peter und Paul.

Das Angebot von Trenkwalder, zusammen mit vier Tagen Halbpension im Design- und Dinnerhimmel Schgaguler: „Grenzen erfahren – Grenzen erweitern“ in der Kleingruppe. Damit meint er nicht, eine neue Gin-Sorte zu probieren.

Früh am Morgen, Zanser Alm. Der präfrontale Cortex der Kletter- Anfängerin meldet: Das ist unmöglich. Steck den Helm wieder in den Rucksack, steig aus dem Klettergurt, lös’ die Karabiner und trinke den zweiten Cappuccino. Aber da ist etwas, das stärker ist. Die Arme sind es nicht. Vielleicht der Ehrgeiz, sich vor der Reisegruppe nicht zum Gespött zu machen, oder gar Abenteuerlust? Das Herz schlägt bis zum Kinn, acht Meter über dem schneebedeckten Boden an einer Felswand. Drüben hat vor kurzem eine Lawine ein Waldstück einfach umgeknickt. Die Finger krallen sich schwitzig in eine Rinne, die Füße sind irgendwo, wo es sich falsch anfühlt.

Der kleine Reinhold war schon mit fünf Jahren oben

Trenkwalder – Erstbegehungen großer Wände in Madagaskar, Mali, Namibia, Venezuela usw., leidenschaftlicher Kritiker der Sächsischen Schweiz – spricht von unten: „Den rechten Fuß dorthin, wo jetzt der linke ist!“ – „Aber da ist schon mein Linker.“ – „Ich kann jederzeit hochkommen!“ Alles, nur das nicht.

Die Zanser Alm liegt unterhalb der spektakulären Geislerspitzen am Ende des Villnöss-Tals. Wanderfreundinnen wissen, dass hier der kleine Reinhold im Alter von fünf Jahren, zusammen mit seinem Bruder, vom Vater auf den Hauptgipfel geführt wurde: den Sass Rigais, 3.025 m. Der kleine Reinhold hat diesen Zehn-Meter- Brocken, der Teil eines Klettergartens ist, wahrscheinlich schon erklommen, bevor er laufen konnte. Erkenntnis an der Wand: Irgendwie geht es weiter. Eine Rinne im porösen Dolomitgestein, eine schmale Ritze, eine Unregelmäßigkeit in den Steinstapeln. Fingerkuppen schwitzen, färben sich dunkelrot. Mal schauen, wo ist eigentlich das Ziel? Der Blick fällt versehentlich nach unten – ungesichert.
Kniescheiben vibrieren.

Der rechte Fuß steht über Hüfthöhe, dieses Bein müsste man langsam mal kräftig strecken, um an den nächsten Griff zu kommen. Der Moment zwischen Durchdrücken und nächster-Griff-noch-nicht-gefunden ist sehr lang. Man tastet vorsichtig nach Halt, aber da ist nur glatter Stein. Blut rauscht in den Ohren. Wo ist der Musculus vastus lateralis, wenn man ihn braucht?

Trenkwalder mag keine Corporate-Selbsterfahrungstrips, schon gar kein mittleres Management. Auch die Sprache des Kapitalismus und mit ihr die gesamte alpine Höher-Weiter-Gipfel-Teambuilding-Metaphorik scheint ihm fremd. Worum es ihm aber schon geht, ist Vertrauen. Es ist leicht, ihm das zu schenken. Seine Klientinnen und Klienten kommen mit Lebensfragen zu ihm, die sich besser in Bewegung erforschen lassen als in einer Praxis. Der Berg selbst trage zur Problemlösung relativ wenig bei, sei nur ein „Resonanzraum“.

Und Trenkwalder ist generell zugeneigt, das kann, wer will, an seiner Körperhaltung ablesen. Ein bisschen vorgebeugt, Schultern und Arme wie allzeit bereit zur schnellen Umarmung von Gestein und Mensch. Manchmal bleiben die Lach- und Sonnenfalten unter dem Schirm des Basecaps mit Sponsoren-Logo verborgen. Denn es ist zum Glück nicht so, dass sein Einfühlungsvermögen Bergführer-Flachwitzen grundsätzlich im Wege steht.

Oben. Geschafft. Sauerstoff bis in die Haarspitzen. Wo kommt nun dieses Lachen her? Ist doch gar nicht so lustig, hier mit bebenden Beinen auf einem Felsen zu hocken – und wieder hinunterzumüssen. „Klären wir später, woher das Lachen kommt“, meint Trenkwalder geduldig und versucht, mich am Seil hinabzulassen. „Ich hab schon eine Idee.“

Erstmal gehen wir den Adolf-Munkel-Weg zur Gschnagenhardt-Alm der Familie Profanter, an diesem außergewöhnlich kühlen Junitag fast allein. Man kann sich als Teil eines 1000-Teile-Puzzles fühlen. Schleierwolken wie aus Zuckerwatte kleben an den Nordwänden der Geislergruppe, zerreißen träge, bilden neue Formationen. In den Schlagschatten der Mittagssonne wirkt der Fels noch härter.

Trenkwalder hebt einen Stein auf und zeigt die Abdrücke einer Muschel – ein Andenken daran, wie die Entstehung der Dolomiten vor 280 Millionen Jahren begann: als tropisches Meer. Aber weil die Berge, wie Goethe fand, stumme Meister sind, die schweigsame Schüler machen, wird auch nicht mehr gequatscht als notwendig. Man könnte natürlich reden, aber man tut es nicht. So geht man leicht weiter, mal hintereinander, mal nebeneinander. Mal allein. Ein Schnaufen, ein Blick, eine Pinkelpause.

Im Vorbeigehen finden wir die Ringelspuren des Dreizehenspechtes in der Fichtenrinde. Die haut er mit dem Schnabel hinein, um den austretenden Baumsaft abzuzapfen. Weiß man das einmal, wird man die Spuren in diesem Märchenwald nicht mehr übersehen.

Als Trenkwalder merkt, dass einem der Rucksack schwer wird, hängt er zusätzlich das meterlange Seil darauf – nur, um es bald darauf wortlos wieder abzunehmen. Plötzlich ist der Rucksack leicht. Druck ist vielleicht nur eine Frage der Einstellung.

Am Grödner Joch ist Lambo-Treffen

Abends dann die Auflösung, woher das Kichern kam. Druckausgleich. Oder halt einfach: Spaß, ausgelöst durch das psychologische Grundbedürfnis Selbstwirksamkeit. Eigentlich ganz schön, dass die Beine von Felskanten mit Hämatomen in allerlei Farbverläufen tätowiert wurden. Was machen wir morgen?

Trenkwalder hat eine App, die verschiedene Wetterprognosen auswertet. Auch sie zeigt viele blaue Flecken: Regenfelder, viele Regenfelder. Der Juni ist in ganz Südtirol zu nass, sodass die Bäuerinnen um ihre Heuernte fürchten. „Wir haben bis zum frühen Nachmittag. Dann gehen wir den Klettersteig auf die Große Cir.“

Die leicht angespannte Google- Suche „Große Cir wie schwer“ ergibt: „Der versicherte Weg auf die Große Cirspitze (Gran Cir) ist sogar für einen Berner Sennenhund machbar und eher ein schwarzer Bergweg als ein Klettersteig. Ausrüstung: Für Ungeübte Klettersteigausrüstung, Kinder evtl. ein Sicherungsseil.“ Das meint bergsteigen. com.

Als wir losgehen, ist am Grödner Joch Lambo-Treffen. Eine Kolonne der bonbonfarbenen Autos jault durchs Tal, dazu dröhnt ein tief fliegender Versorgungshelikopter. Pisten-Infrastruktur steht
nutzlos herum, die Schneekanonen sehen aus wie riesenhafte elektrische Zahnbürsten. „Apokalypse Now“, kommentiert der Filmexperte der Reisegruppe. Vor genau 15 Jahren hat das Unesco-Welterbekomitee die Dolomiten in die Liste des Weltnaturerbes aufgenommen. Dies lockt nun so viele Touristen aus aller Welt an, dass sie der Natur gefährlich werden.

Nach einer halben Stunde Aufstieg weist uns Trenkwalder an, die Helme aufzusetzen und die Klettergurte anzulegen. Wir sind jetzt eine Seilschaft. Entweder Trenkwalder ist sehr vorsichtig oder der Berner Sennenhund des bergsteigen.com-Autors außergewöhnlich gut in Form.

Ab dem ersten Drahtseil sichern wir uns mit je zwei Karabinern. Klettert einer etwas zu schnell eine Felsplatte hoch, spüren die anderen seinen Zug. Rechts geht es steil hinab, überall Geröll. Klong, donnert der Helm vor einen Felsvorsprung. Karabiner auf, Karabiner zu. Es dauert seine Zeit, bis wir einen Rhythmus gefunden haben. Dann funktioniert die Seilschaft. Nicht schlecht für eine Gruppe, die sich am Vortag erst kennengelernt hat. „Was macht man gegen Höhenangst?“, will einer wissen.

Langsam zieht es sich zu, doch bedrohlich ist es nicht, oder?

Trenkwalder macht vor, wie sich Ängstliche am Berg festklammern, buchstäblich einfrieren – und rät, das Gewicht erstmal wieder auf die Füße zu verlagern für einen festen Stand. Später wird er
sagen: „Wer nie Angst hat am Berg, ist psychisch nicht gesund.“

Am Gipfel Rundum-Sicht auf Sellastock, das Puez-Hochplateau und den Langkofel. Wir lernen eine einheimische Friseurmeisterin und ihre Tochter kennen, die sich nach einem frühmorgendlichen Arbeitseinsatz auf dem Klettersteig entspannen. Die Dolomiten stehen als Kulisse im Portfolio vieler international tätiger Hochzeitsplaner, und die Bräute brauchen Sturmfrisuren und tränenfestes Make-up, bevor sie im Helikopter fürs Fotoshooting auf ein Felsplateau geflogen werden. Ein Sehnsuchtsort waren die Bleichen Berge schon immer. Egal, wie man sich ihnen nähert: Den Mutigen setzen sie vieles ins Verhältnis.

Beim Abstieg schaut Pauli auf seine Wetter-App. „Holt die Regenjacken raus“, meint er. Die Reisegruppewechselt Blicke. Es zieht sich zwar zu, doch bedrohlich wirkt es nicht. Trotzdem gehorchen wir. Als das Cape sitzt, kommt ein kurzer Wolkenbruch und lässt das Geröllfeld glitschig zurück. „Irgendwelche Tipps für sicheres Gehen auf vielen beweglichen Steinen?“ – „Einfach gehen.“

Komplexer wird es beim abendlichen Debriefing. Wir sind dem vielfach besprochenen Phänomen auf der Spur, warum man beim Wandern „den Kopf frei bekommt“. Trenkwalder erklärt dies streng wissenschaftlich mit transienter Hypofrontalität. Beim Bergsteigen werde, wie beim Sport allgemein, der motorische Cortex aktiviert, der präfrontale Cortex komme zur Ruhe. Die kognitiven Fähigkeiten sinken unter körperlicher Belastung. Auch die Flow- Theorie legt nahe: Einfälle kommen in Bewegung, wenn man sie nicht erzwingt. Das bedeutet nicht, dass jede Idee, die man auf dem Waldweg hat, gut sein muss.

Am letzten Tag gehen wir von Wolkenstein über die Silvesterscharte zur Stevia-Hütte. In der Scharte sind es zwei Grad, die Stevia- Hütte hat – wie alle Hütten, die wir in diesen drei Tagen ansteuern – noch geschlossen. Knödelsuppen-Enttäuschungsmanagement, auch das lehrt einen was. Doch wir dürfen uns in Tonis Stube bei einem Schnaps aufwärmen und schon ans Schgaguler-Restaurant denken.

Es duftet nach kühlen Steinen und nassem Moos

Auf dem Rückweg bleibt Trenkwalder so abrupt stehen, dass man beinahe in ihn hineinrennt. Auf einem Felsvorsprung tut ein Murmeltier, was ein Murmeltier tun muss. Süß? Nein. Murmeltiere, erfahren wir, lassen ihre Alten zum Sterben vor der Höhle, bevor der Winterschlaf beginnt. Weil es effizienter ist. In der Schlucht unter uns wallt Nebel auf. Es duftet nach kühlen Steinen und nassem Moos.

„Schon schön, oder?“ Trenkwalder erzählt, wie altbacken er früher erfahrene Wanderführer fand, die stehen bleiben und andere auf die Schönheit der Natur hinweisen. Mittlerweile ertappe er sich häufiger dabei, es selbst zu tun. Was das wohl über einen sagt? Das besprechen wir später.

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