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Interview erschienen in …

Ich kann nicht mehr!

Auf Berge zu steigen, ist zunächst einmal: anstrengend und nutzlos. Dennoch wandern und klettern immer mehr Menschen auf Gipfel. Was gibt ihnen der schweißtreibende Weg in die Höhe? Eine psychologische Spurensuche auf einer Bergtour mit der Familie.

Dicke, gelbe Blüten durchtupfen die saftigen Almwiesen. Ein milder Wind wogt das Meer aus Halmen und Blumen. Über den Himmel ziehen ein paar Wolken von watteweicher Kuscheligkeit. Ein Bach plätschert gen Tal, Enzian wächst am Wegesrand, Blaubeersträucher schmiegen sich an Felsbrocken. Schmetterlinge taumeln durch die Schatten der großen Fichten, Lärchen, Kiefern und anderen Bäume, die ihre ausladenden Äste über die Hänge breiten. Am Horizont ragen die Felsformationen der Dolomiten empor. Ist das dort der Peitlerkofel oder der, die, das Furchetta? Die Gipfel-App auf dem Smartphone streikt, das Netz hier oben schwächelt, ein Glück. Sommer in Südtirol, Sommer in den Bergen, die Morgenluft ist frisch und klar, nirgends kann es gerade schöner sein als hier in den Bergen.

„Ich kann nicht mehr“, jammert der sechsjährige Sohn.

Der Aufbruch liegt maximal zehn Minuten zurück, welche das sechs und zehnjährige Brüdergespann genutzt hat, sich um die Kamera zu streiten.

„Wir sind gerade erst losgegangen“, jammert der Vater und fasst den Vorsatz, entspannt zu bleiben.

„Kindgerecht“ soll diese Tour sein. Zwar befindet sich die Familienwandergruppe auf etwa 2000 Metern Höhe. Aber die Wege verlaufen fast eben durch Almwiesen, nur selten geht es kurz bergauf. Das nächste Ziel ist eine Portion Kaiserschmarrn auf einer Hütte in, großzügig geschätzt, eineinhalb Stunden Entfernung.

„Warum muss man in den Bergen wandern gehen?“, legt der Sechsjährige nach.

Da pikst der Junge den Vorschulfinger in eine Grundwunde des Alpinismus. Er äußert eine Frage, die sich stellt, wenn Extremsportler ihr Leben riskieren. Eine Frage, die sich vor Bergsteigern ohne Hochleistungsambition auftürmt, wenn auf einer Tour die Erschöpfung gnadenlos einsetzt. Eine Frage, die sich Kinder stellen, wenn sie mit ihren Eltern in den Bergen ein bisschen wandern sollen: Wozu steigt ein Mensch auf einen Berg, wo es doch auch im Tal Kaiserschmarrn gibt?

„Um Gott zu finden“, soll der italienische Dichter Francesco Petrarca 1335 gesagt haben, dessen Besteigung des Mont Ventoux oft als Geburtsstunde des Bergebesteigens um seiner selbst willen verklärt wird.

„Weil er da ist“, lautete die berühmte Antwort des britischen Alpinisten George Mallory, als er nach seiner Motivation zur Bezwingung des Mount Everest befragt wurde, an dem er 1924 verscholl.

Weil er als Mann „keine Kinder bekommen“ könne, soll Reinhold Messner einmal gesagt haben.

„Weil es schön ist“, sagt der Vater zu seinem Sohn.

„Es ist nicht schön“, sagt der Sohn.

Zwischenfazit nach einer halben Stunde Familienwanderung: Was Menschen in den Bergen suchen und finden, klärt sich nur mühsam auf. Die gängige Bergliteratur liefert ebenfalls nur einen zarten Hinweis. Alpinisten der Gegenwart verbrämen ihre Expeditionen als quasispirituelle Klettertour zu sich selbst: Wo Petrarca noch den lieben Gott suchte, erwarteten Bergsteiger heute die Wunschversion ihres Ichs. Auch das lässt sich als zeitgeistiger Ausdruck von Ratlosigkeit lesen. Es zeigt aber: Die Berge und die Bewegung in ihnen wirkt auf die Psyche des Menschen, offenbar vor allem auf positive Weise.

 Weiß die Wissenschaft die Route zu tieferen Einsichten?

Die unmittelbare Sinnlosigkeit, auf einen Berg zu steigen, hat den Verhaltensökonomen George Loewenstein einmal dazu verleitet, einen klassischen Aufsatz über die Motivation von Bergsteigern zu schreiben. Die Ökonomie frage ja stets nach dem reinen Nutzen von Gütern, Erfahrungen oder Transaktionen, so der Forscher. Die Grundannahme lautet: Menschen entscheiden sich für Dinge, die sie mögen. Aber ernsthaftes Bergsteigen sei sehr oft eine elende Erfahrung, so Loewenstein, Kälte, Nässe, Erschöpfung, Hunger, Durst, Angst, Erfrierungen, quälend lange Märsche, um dann quälend lange Klettereien anzutreten. Das widerspricht dem klassischen ökonomischen Denken.

 „Ich kann wirklich nicht mehr“, sagt der Sechsjährige.

Es braucht keine Expedition. Auf den Nanga Parbat, um zu begreifen: Unmittelbarer Spaß ist eine Tour in die Berge selten. Diese Erkenntnis liefert auch eine Tour mit Kindern. Aber die Lust am Bergsteigen speist sich aus genau diesem Paradoxon: Es ist großartig, weil es so schrecklich sein kann. Die nötige Anstrengung könnte, so zeigt psychologische Forschung, sinnstiftend wirken. Das leicht Verfügbare gibt rasche Zufriedenheit, das Schwere und die Überwindung schenken hingegen Gefühle von Sinn und Stolz. Vielleicht ist das ein klitzekleines bisschen damit vergleichbar, Kinder zu haben: Es ist anstrengend, es kostet Kraft, Schlaf, Energie, Nerven, Zeit – und es ist das Größte der Welt. Das akute Glück sackt müde zusammen, wenn die Kleinen fordern, nerven, nölen, das Leben aber bekommt durch sie: einen Sinn.

Aspekte davon stecken womöglich in dem Drang, Gipfel zu besteigen. Zum Sehnsuchtsort bewegungswilliger Massen haben sich die Berge schließlich erst parallel zum Rückgang körperlicher Plackerei im Alltag entwickelt. Es waren englische Adelige, die vor gut 200 Jahren den Alpinismus in die Alpen brachten. Die Lords von der Insel sahen einen Abenteuerspielplatz. Für die Bewohner vor Ort waren die Berge hingegen etwas Bedrohliches, etwas Lebensfeindliches, dort hausten Dämonen. Und wozu braucht es Freizeitschinderei, wenn das Leben ohnehin aus Hunger, Erschöpfung, Kälte und harter Arbeit besteht? Womöglich ist das Bergsteigen eine Simulation dieser überwundenen Alltagshärten. Die schlimmsten Erfahrungen auf solchen Touren erzeugten die besten Erinnerungen, schreibt Loewenstein. Überstandene Zumutungen verklären sich zu intensiven Erinnerungen.

Der Sechsjährige fängt an zu singen. „Last Christmas“ von Wham! Wirklich. Der schlimmste aller Weihnachtsohrwürmer. Sein Bruder fällt ein. Das nur lautmalerische Englisch ist herzzerreißend.

 Die Bewegung in den Bergen entspannt, manchmal sogar die Kinder. Studien legen nahe, dass Wandern und vergleichbare Aktivitäten Stress reduzieren, Anspannung lösen und das Denken lüften. Die Alltagsschinderei besteht heute für sehr viele Menschen weniger aus körperlichen Strapazen als aus Terminstress, Entscheidungsüberforderung und oft aus der Frage, welche von den unzähligen Möglichkeiten für Projekte, Arbeit, Freizeit nun ausgewählt werden sollen. Eine Bergtour reduziert diese Überforderung, weil sie die Zahl der Möglichkeiten radikal verkleinert. Es geht nur darum, das anvisierte Ziel zu erreichen.

 Erwachsene hören auf, über Vorgesetzte zu grübeln, und finden in die reine Tätigkeit des Gehens. Auch den Kindern gelingt das phasenweise: Statt ein paar Folgen „PawPatrol“ auf dem Tablet oder eine Portion Süßigkeiten einzumaulen, laufen sie, weil in den Bergen kaum andere Möglichkeiten der Bespaßung bestehen. Das Denken lockert sich. Der Rhythmus der Bewegung fördert Ohrwürmer, Ideen und Gedanken zutage, die im Alltag blockiert werden. Gelegentlich stellt sich dabei ein Zustand ein, den der Glücksforscher und Psychologe Mihály Csíkszentmihályi als „Flow“ bezeichnet hat: die völlige mentale Vertiefung in die aktuelle Tätigkeit. Der Rest der Welt blendet sich aus, es gibt nur mehr Bewegung, Schritt für Schritt, Kletterzug für Kletterzug.

„Ich bin der beste Diamantsucher der Welt“, sagt der Sechsjährige.

Die Kinder sammeln jetzt Steine. Quarzbrocken, glitzernde Kiesel, Hauptsache, es funkelt. Sie gehen auf in dem, was sie machen. Gestört wird dieser Flow kurz von der Diskussion, wer die vielen wertvollen Schätze für den Rest der Tour tragen soll. Der Rucksack des Vaters nimmt stetig an Gewicht zu. Doch die Landschaft lenkt davon ab. Im Schatten einer einsamen Kiefer steht eine Kuh und glotzt mit leicht irr hervorstehenden Augen herüber. Am Wegrand wächst Frauenmantel, auf dessen Blättern gebogene Wassertropfen die Sonne reflektieren. Am Horizont die Gipfel. Die Psyche profitiert von Zeit, die im Grünen, im Freien verbracht wird. Landschaften reduzieren Stress, heben die Laune und verbessern die Gedächtnisleistung. Diese Effekte sind nicht riesig und ein klarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ist schwer zu belegen. Aber dennoch, die Abwesenheit von Verkehr und Reizüberflutung entspannt, die Bergkulisse weckt Gefühle von Erhabenheit und Ehrfurcht.

 „Wie lange müssen wir noch laufen?“, fragt der Sechsjährige.

Es ist nicht mehr weit bis zur Kaiserschmarrn verheißenden Hütte. Vielleicht noch eine halbe Stunde, zwischen Almen hindurch, vorbei an einem Berghof, vor dem Hühner scharren und ein kleiner Hund sich streicheln lässt. Das Ziel liegt jetzt vor Augen. Auch das ist ein Balsam, den eine Bergtour auf die Seele salbt: Ein definiertes Ziel kann so guttun. Eine Hütte, ein Gipfel, eine Route, egal ob Leistungsanspruch oder Spaziergang, es handelt sich um Vorhaben, deren Klarheit die Psyche entspannt. Ein erreichtes Ziel beeindruckt das Selbst, es lindert Zweifel. Natürlich gilt das auch für Extrembergsteiger, die gerade neue Rekorde durch die Todeszone erklettert haben. Aber es gilt auch für die Familienmitglieder, die nach einer Wanderung erschöpft die Bergschuhe aufschnüren und genießen, wie leicht sich die befreiten Füße nach Stunden in schweren Stiefeln plötzlich anfühlen. Und natürlich geht es auch um Ruhm. Wer von einer Bergtour erzählt, erntet mehr Anerkennung, als wenn er von einem Serienmarathon auf dem Sofa berichtet. Erst recht gilt das für das „Höher, schneller, gefährlicher“ des Extremalpinismus.

„Was ist der höchste Berg der Welt?“, fragt der Sechsjährige.

Die letzte halbe Stunde vergeht also mit Gesprächen über den Mount Everest und andere Riesen aus Fels. Kinder lieben Rekorde. Es geht um die Frage des Sohnes, ob schon einmal jemand an einem Achttausender abgestürzt ist und wer da überhaupt hinaufgekrabbelt ist. Die Rede kommt auf den allgegenwärtigsten aller Bergsteiger, Reinhold Messner, und darauf, dass auf den ganz hohen Bergen auch im Sommer Schnee und Eis liegen. Dann stehen wir auf einmal vor der Hütte. Der Kaiserschmarrn schmeckt großartig, hinter dem Haus laufen ein paar junge Schweine herum, die Kinder spielen, es ist herrlich. Was könnte es jetzt Schöneres geben, als hier in den Bergen zu sein? Nach dem Essen steht irgendwann der Rückweg an, das genau gleiche Programm noch einmal.

„Papa, ich kann wirklich, wirklich, wirklich nicht mehr!“

Es ist wunderbar in den Bergen.

„Angst gehört dazu“
Ein Bergführer und Psychologe über Risikoeinschätzung am Berg.

Draußen wird mit lauten Traktorengeräuschen das Heu gewendet, sodass Pauli Trenkwalder für das Videogespräch erst mal das Fenster schließen muss. Man erwischt ihn zwischen ein paar Touren zu Hause in Südtirol, wo er mit seiner Tochter und seiner Frau lebt.

SZ: Herr Trenkwalder, wie viel Angst muss ich am Berg haben, damit sich mein Ausflug danach richtig aufregend und befriedigend anfühlt?

Pauli Trenkwalder: „Ein bisschen Angst darf schon sein, es sollte aber nicht zu viel werden!“, sagen meine Gäste gern, wenn sie ihre Wunschtour beschreiben. Angst und Sorge, also Anspannung vor der Bergtour, trägt dazu bei, dass ein Erlebnis im Gedächtnis bleibt. Zur Befriedigung führt allerdings nicht der Grad an Angst, sondern das richtige Maß zwischen Unter- und Überforderung. Gleichzeitig brauche ich die Angst am Berg dringend, denn sie ermahnt mich zu Vorsicht und Fürsorge.

Ich meinte eigentlich nicht Vorsicht, sondern dieses Gefühl, das Menschen in den Bergen suchen, wenn sie immer krassere Sachen machen.

Ich verstehe, Sie meinen den Kick. Menschen suchen ja sehr Unterschiedliches am Berg. Aber wir alle haben das Bedürfnis nach abwechslungsreichen und neuen Eindrücken, dafür nehmen wir physische, psychische und soziale Risiken auf uns. Wenn wir uns beide auf der „Sensation Seeking Scale“ vergleichen, also der Suche nach befriedigenden Stimuli, haben wir ziemlich sicher nicht dieselbe Grundlinie, um den Kick zu finden. Das hat aber wenig mit dem Berg an sich zu tun.

Extrembergsteiger sind nicht stärker auf der Suche nach existenziellen Erfahrungen, als etwa Büromenschen?

Nein, Bergsteiger sind nicht grundsätzlich risikofreudiger oder weniger ängstlich als andere. Ob High oder Low Sensation Seeker, Profibergsteiger sind sich meist sehr bewusst, mit welchem Persönlichkeitsprofil sie im Gebirge unterwegs sind und welchem Risiko sie sich aussetzten. Die grundsätzliche Verknüpfung von Bergsport und Risikofreude ist für mich nicht stimmig.

„Die Verknüpfung von Bergsport und Risikofreude ist für mich nicht stimmig.“

Es scheint Sie zu nerven, wenn man die Verknüpfung zieht, also unterstellt, dass Extrembergsteiger irgendwie todesmutiger sein müssen als der Rest der Welt.

Sehen Sie, am Ende ist Bergsteigen, wie alles, eine Tätigkeit, die man auf sehr unterschiedlichen Stufen ausführen kann. Man kann als Anfänger in die Berge gehen und eine gute Zeithaben. Oder als Fortgeschrittener. Oder als Profi. Für den Profi ist Risikoabschätzung ein Teil seines Könnens, das er mit viel Zeit maximal zu perfektionieren versucht. Natürlich ist er da besser als der Hobbybergsteiger. Profis treffen bewusst die Entscheidung, sich einem höheren Risiko auszusetzen. Dass ein Nichtbergsteiger diese Entscheidungen nicht nachvollziehen kann, liegt in der Natur der Sache. Frauen und Männer, die das Bergsteigen auf hohem Niveau praktizieren, haben über viele Jahre unzählige Erfahrungen gesammelt und reflektiert. So können sie auf eine gewachsene Intuition zurückgreifen, um gute Entscheidungen zu treffen.

Ist diese Intuition für jeden erlernbar?

Ganz automatisch passiert das auf jeden Fall nicht. Nehmen wir eine Skiabfahrt über einen Hang, der lawinengefährlich sein könnte. Wenn Sie den Hang nicht abfahren, wissen Sie im Nachhinein nicht, ob Sie eine Lawine auslösen hätten können. Wenn Sie ihn abfahren und es passiert nichts, ist es aber noch komplizierter. Sie könnten denken, Sie treffen gute Entscheidungen, weil nichts passiert ist. Gleichzeitig wissen Sie nicht, wie nahe Sie dran waren an einem Lawinenabgang. Nur wer kritische und schwierige Situationen am Berg im Nachgang nochmals anschaut, reflektiert, sich mit anderen austauscht und mit Distanz auf das eigene Verhalten blickt, gewinnt Erfahrung mit hoher Qualität. Dies wirkt auf die eigene Intuition. Das ist aufwendig und kostet viel Zeit.

Wovor haben Sie selbst Angst?

Gewitter im Sommer, Lawinen im Winter – und alle Situationen, auf die ich kein Einfluss nehmen kann. Aber ich bin ganz gut darin, die Angst dann auszuhalten.

Fühlen Sie sich danach gut oder schlecht?

Das Zurückdrängen von Angst ist eine psychische Leistung und in gefährlichen Situationen am Berg eine sehr stimmige Reaktion. Die Erfahrung zu machen, dass man mit Angst umgehen kann, stärkt. So gesehen bin ich danach immer erleichtert. Es gibt aber auch Ereignisse, die akute oder posttraumatische Belastungsreaktionen auslösen. Angst gehört zum Bergsteigen dazu. Und man muss übrigens nicht bergsteigen, um glücklich zu werden.

Interview: Vera Schroeder
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