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Vortrag und Beitrag für das Lawinensymposium Graz 2025

Beim Lawinensymposium Graz 2025 habe ich gemeinsam mit Riki Daurer einen Vortrag zum Thema „Erklären statt belehren – der Alpinunfall in den Sozialen Medien“ gehalten. Der gesamte Beitrag und ein Link zum Tagungsband anbei. 

Beitrag & Vortrag: Pauli Trenkwalder, Riki Daurer

Warum die Fehlerkultur am Berg und im Netz so unterschiedlich ist – und was wir daraus lernen können

„Fehlerkultur ist nicht nur eine Frage des Lernens, sondern auch des Umgangs miteinander.“

Frühmorgens am Grat. Zwei Bergsteiger*innen steigen vorsichtig über festen Firn und griffigen Fels. Stirnlampen werfen tanzende Kegel in die Dunkelheit, der Wind ist kalt, der Himmel verspricht einen klaren Tag. Jeder Schritt ist durchdacht, jeder Griff bewusst. Es herrscht Ruhe – aber auch Konzentration, Verantwortung, Vertrauen. Und vor allem eines: Freiheit.Diese Momente am Berg bedeuten für viele mehr als nur Sport. Sie sind Ausdruck von Selbstbestimmung, von Lebensphilosophie. Entscheidungen sind nicht immer eindeutig – aber getragen von Erfahrung, Intuition, Absprache. Freiheit, Vertrauen, Verantwortung – das sind hier nicht bloß Worte, sondern gelebte Werte.Und dann passiert ein Unfall. Ein falscher Tritt, ein Steinschlag, eine Fehleinschätzung – oder einfach Pech. Die Seilschaft gerät in Not. Einer wird verletzt, der Rettungshubschrauber kommt, der Tag endet im Krankenhaus statt am Gipfel.

Wie vor kurzem an einem bekannten Ostalpengipfel: Zwei gut vorbereitete Alpinist*innen geraten in einem steilen Schneefeld ins Rutschen. Der Unfall geht glimpflich aus – doch die Geschichte macht im Netz die Runde. Keine 24 Stunden später: Dutzende Kommentare, Hunderte Likes, klare Urteile. „Die sollen das selber zahlen.“ – „Wer so was macht, gefährdet nicht nur sich, sondern auch andere.“ – „Unbelehrbar!“ – „Fahrlässig.“

Und während die beiden Bergsteiger*innen noch versuchen zu verstehen, was passiert ist, wird im digitalen Raum bereits geurteilt – noch lange bevor ein Gutachten erstellt ist und ein Gericht ein Urteil fällen wird. Plötzlich sind die Werte, die wir am Berg so hochhalten, wie weggeblasen. Aus Freiheit wird Kontrolle. Aus Vertrauen Misstrauen. Aus Verantwortung Schuldzuweisung.

Was passiert da mit uns? Warum fällt es uns im Netz so schwer, empathisch und lernbereit zu bleiben, wenn etwas schiefläuft?

Diese Überlegungen führen zu einer zentralen Frage im Umgang mit sozialen Medien: Können wir online wirklich aus den Fehlern anderer lernen? Oder brauchen wir dafür zuerst eine andere Haltung im Umgang mit Fehlern – online wie offline?

Die Realität sozialer Medien

Kehren wir zu dem oben geschilderten Unfall in den Ostalpen zurück, der innerhalb kürzester Zeit viele Darstellungen im Netz und zig-fache Kommentare ausgelöst hat. Gepostet wurde dieser Unfall von vielen: von alpinen Organisationen, die an der Rettung beteiligt waren, von einem Medium, das darüber berichtete, und auch von Privatpersonen – die diese Postings teilten und mit ihrem Kommentar und ihrer Bewertung versahen.

Wer den Post mit welcher Motivation erstellt, ist dabei sowohl dem Portal, auf dem das Posting veröffentlicht wird, als auch den lesenden User*innen egal. Beide – also Portal und User*innen – nehmen diesen Inhalt und verschaffen ihm im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten Reichweite. Das Portal durch seinen Algorithmus, die User*innen durch Kommentar, Likes, Emojis oder das reine Betrachten der Meldung. Dabei stoßen Welten aufeinander: die alpine Realität, zu der unvorhergesehene Ereignisse, schlechte Entscheidungen oder einfach Pech dazugehören, und eine gänzlich anders gelagerte – bzw. fehlende – Fehlerkultur in den sozialen Medien. In vielen Fällen kommt es dadurch zu einer – nicht immer beabsichtigten – Moralisierung und Verurteilung von Opfern bzw. deren Angehörigen sowie zur Verbreitung von ungewollten Botschaften.

Im Folgenden wird zum einen dargestellt, warum das Thema „Alpinunfälle“ bei User*innen und Leser*innen so bliebt ist und nicht nur gern gelesen, sondern auch kommentiert bzw. emotionalisiert wird, und wie ambivalente Narrative und Motive dies befördern. Zum anderen wird aufgezeigt, wie die Mechanismen der Portale diese Dynamik zusätzlich begünstigen.

Ambivalente Narrative befördern das Kommentieren von Unfällen

Motivation hinter dem Post vs. Botschaft der Nachricht
Autor*in vs. Community

Ein vermeintlich gut gemeinter Unfallpost (Motivation: Damit andere daraus lernen) wird schnell zum Auslöser eines Shitstorms gegen Opfer oder deren Angehörige. Denn mit dem Posten eines Unfallberichts lädt man die Community zur Bewertung ein, die wiederum die finale Botschaft kreiert – durch Folgekommunikation. Der vermeintliche Autor wird seiner Position enthoben und die ursprünglichen Leser*innen des Posts werden durch ihre Kommentare zum neuen Autor, dem Produser, und verleihen dem Post eine neue, oft unerwünschte Bedeutung.

Umgekehrt kann ein bewusst medial inszenierter Unfallbeitrag bei den Leser*innen als „gut gemeinte“, zuverlässige Information ankommen – dahinter steckt aber das harte Kalkül einer Marketing-Rechnung: mehr Klicks, mehr Werbeeinnahmen.

„Die Geister, die wir riefen“ vs. „Die Bergsteiger*innen, die wir nicht wollen“
Versicherung vs. Vollkaskomentalität

Viele von uns leben vom „alpinen“ Tourismus – in direkter oder indirekter Weise. Wir befördern den Bergtourismus durch die Vermarktung der Alpen – zuzüglich notwendiger Versicherung, Unterkünften und Touren. Auch in den sozialen Medien.

Doch der Unfall scheint in diesem Zusammenhang keinen Platz zu haben und die Verunfallten werden zu Unerwünschten, zu den anderen. Sie symbolisieren die Seite der Berge, die in den Hochglanzprospekten keinen Platz hat – die gefährliche, risikobehaftete, die praktischen allen alpinen Unternehmungen innewohnt. Und so entsteht die skurrile Situation, dass auf der einen Seite der Abschluss von Versicherungen für Bergungskosten angepriesen wird und auf der anderen Seite werden die vernadert, die diese auch beanspruchen.

Laien vs. Expert*innen
Wir & die anderen

Die perfekte Pulverabfahrt bei Lawinenwarnstufe 3, der Aufruf zum „Spaß im Schnee“ steht neben der Warnung, bitte an demselben Tag ja nicht ins freie Gelände zu gehen. Die einen (Spaß) sind Expert*innen, alle anderen – gehen sie doch raus und es passiert etwas – anscheinend fahrlässig unterwegs.

Fahrlässigkeit vs. Schicksalsschlag
Rettung vs. Gefahr

Doch wer entscheidet, ob fahrlässig gehandelt wurde? Leider sehr oft und sehr schnell die Community. Dazu eingeladen durch die sozial-mediale Aufbereitung von Unfällen. Für mehr Reaktionen werden diese – leider zunehmend auch von traditionellen Medien – mit für den Vorfall irrelevanten Informationen wie die Nationalität der Betroffenen versehen. Passiert derselbe Unfall hingegen Einheimischen oder Bergführer*innen, wird in der Berichterstattung eher von einer Naturgewalt oder einem unvorhersehbaren Ereignis gesprochen. Für bestimmte Communitys ist das ein gefundenes Fressen – es bestätigt ihr Denken innerhalb der eigenen Filterblase.

In dieser Argumentationskette findet man auch immer Kommentare, die auf die vermeintliche Gefährdung der Retter*innen hinweisen, die durch die Fahrlässigkeit anderer Personen entsteht. Doch Rettungsorganisationen distanzieren sich klar: Auch wenn ein Restrisiko besteht, hat die Sicherheit der Einsatzkräfte selbstverständlich oberste Priorität.

Sensibilisieren vs. Rage Bait
Unfallbericht vs. Lösen des Alpinkrimis

Ein Einsatz im Mai 2025: Ein Verunfallter wird am Klettersteig Donnerkogel-Himmelsleiter gerettet. Während die ARA Flugrettung über den Einsatz an sich berichtet, nüchtern und knapp, und lediglich einen Kommentar dafür erhält, wird an andere(n) Stellen derselbe Unfall mit Informationen zur Nationalität der verunfallten Person und ersten Beurteilungen gepostet. Die Ausbeute: 183 meist negative Kommentare.

Während die einen, oft Bergrettungsorganisationen, Unfälle für ihre Öffentlichkeitsarbeit posten, die Motivation meist klar und die Kommunikationsregeln transparent sind, ergänzen andere den Titel um reißerische Details. Das Ziel: mehr Klicks.

Die Konsequenzen aus diesen unterschiedlichen Beweggründen sind jedoch dieselben: Man lädt die Community zum Mitdiskutieren und Lösen eines „Alpinkrimis“ ein und geriert sich somit als Wächter*in, der*die über die Einhaltung der Moral beim Bergsteigen wacht.

Mutmaßungen vs. Faktenwissen

Mutmaßungen sind von Fakten nicht immer ad hoc von jedem zu unterscheiden – gerade in den sozialen Medien. Und so werden gerne den sofort geposteten Unfallberichten und Beurteilungen geglaubt. Dass eine professionelle Aufarbeitung und Bewertung von Alpinunfälle Zeit braucht, wissen viele nicht.

Fremdzweck vs. Eigennutzen

Den gerne genannten altruistische Ansatz, einen Unfall zu posten, damit andere lernen, soll kritisch gesehen werden – v. a. bei Privatpersonen. Poste ich einen Unfall wirklich nur, damit andere etwas daraus lernen können? Oder eignet sich ein Unfall nicht hervorragend, um mich selbst als vermeintliche*n Experten*in zu positionieren? Auf Kosten anderer.

Einen Denkanstoß dazu bietet die Studie zu „Positional Preferences“ von Andrea Mannberg, die sich zwar primär darauf bezieht, wie soziale Vergleiche das Risikoverhalten von Skitourengehern im freien Gelände beeinflussen, aber gut auf die hier dargestellte Thematik übertragbar ist. Mannberg beschreibt die Tendenz von Individuen, ihren eigenen Status oder Nutzen im Vergleich zu anderen zu bewerten. Der Alpinunfall in den sozialen Medien eignet sich dafür hervorragend – ich bin besser, weil mir passiert das nicht.

Vermeintliche Anonymität vs. juristische Verantwortung

Vermeintlich anonym und geschützt wähnt sich manche*r User*in unter dem Schutzmantel der Community. So überschreitet man fröhlich und öffentlich ethisch und juristisch Grenzen mit Posts, Likes oder Kommentaren. Dass man dabei aber juristischer und natürlich auch journalistischer Verantwortung unterliegt, ist man sich hier nicht bewusst. Und so war es für viele überraschend, als 2024 das erste Mal ein Teilnehmer eines Shitstorms verurteilt wurde (mehr dazu https://alpin.online/strafrechtliche-grenzen-bei-einem-shitstorm/).

Die sozialen Medien verstärken diese ambivalenten Narrative

Ambivalente Bilder wirken im Netz besonders stark auf die Dynamik von Kommentaren, weil sie Interpretationsspielräume öffnen und emotionale Reaktionen aktivieren. Das beeinflusst, wie Menschen reagieren, kommentieren und urteilen.

All diese ambivalenten Narrative und die daraus resultierende Folgekommunikation drehen die sozial-mediale Entrüstungs-Spirale weiter bzw. erlauben der Community, die Spirale weiterzudrehen. Folgende Wirkmechanismen der sozialen Medien verstärken dies noch zusätzlich:

  • Soziale Medien sind Wirtschaftsunternehmen: Alle Portale haben eine Zielsetzung: möglichst hohe Nutzung und Interaktion – damit verdienen sie Geld. Algorithmen verstärken diesen Mechanismus.
  • Portale übernehmen keine journalistische Verantwortung: Ein Portal ist rechtlich kein Medieninhaber. Es zählt Interaktion statt Einordnung, Emotionalisierung statt Kontextualisierung.
  • Kollektives Gatekeeping: Die Community übernimmt die redaktionelle Auswahl – Likes, Shares und Kommentare bestimmen Sichtbarkeit; Algorithmen verstärken.
  • Aufbau der Posts (Visual Framing): Bilder dominieren die Wahrnehmung; die Caption wird oft nur gekürzt wahrgenommen.
  • Kommentar-Dominanz & De-Kontextualisierung: Folgekommunikation wird wichtiger als der Ursprungspost; geteilte Inhalte verändern im neuen Kontext ihre Bedeutung.
  • Filterblasen & Confirmation Bias: Menschen suchen Bestätigung ihrer Überzeugungen; Algorithmen befeuern dies.
  • Illusory Truth Effect: Wiederholungen wirken wahrer – algorithmische Wiederholung verstärkt vermeintliche Fakten.
  • Negativity Bias: Negative Inhalte erzeugen stärkere Reaktionen und damit mehr Reichweite – unabhängig von Qualität.
  • Bandwagon-Effekt & Social Proof: Mehrheitsmeinungen gelten als „richtig“; Reaktionen werden zum Relevanzmaßstab.
  • First-Mover Advantage & Sofortismus: Wer zuerst postet, gewinnt Sichtbarkeit – Qualität zweitrangig.
  • Quantität vor Qualität: Interaktionen zählen mehr als fachliche Tiefe.

Die Konsequenzen im analogen Leben

Aus den genannten ambivalenten Narrativen, bestärkt durch Algorithmen, werden im Netz oft unvollständige oder unwahre Informationen übermittelt. Diese lassen Leser*innen Spielraum zu bewerten und laden zum Kommentieren ein.

Verunfallte oder deren Angehörige werden be- und verurteilt – ohne jegliche Grundlage. User*innen überschreiten ethische und juristische Grenzen mit Sätzen, die man Betroffenen wahrscheinlich so nie direkt sagen würde. Sie werden an den Pranger gestellt und beschuldigt – nicht nur sich selbst, sondern auch andere zu gefährden. Dieses Verhalten hat nicht nur belastenden Auswirkungen auf die Betroffenen, sondern manchmal sogar juristische Konsequenzen.

„Jeder, der sich an einem Shitstorm beteiligt, haftet dem Opfer gegenüber persönlich – unabhängig davon, wer den Post als Erster ins Netz gestellt hat.“ (…)

„Strafrechtliche Grenzen bei Shitstorms – OGH-Urteil, Haftung & rechtliche Risiken beim Teilen – Interview mit Dr. Kerschbaumer“ auf alpin.online

„[D]ie Menschen sind sich gar nicht darüber bewusst, dass sie juristisch als Einzelperson dastehen und verstecken sich einfach hinter der Masse.“

ebd.

Eine gute Idee: Sich der eigenen Motive bewusst werden

Bevor ein Post zu einem Unfall abgesetzt wird oder ein entsprechender Post kommentiert wird, ist es eine gute Idee, sich über die eigenen Motive klarzuwerden. Was will man damit erreichen und kann man das gewünschte Ziel mit einem Post überhaupt erreichen? Besteht die Gefahr unerwünschter Botschaften, Folgekommunikation oder juristischer Konsequenzen? Dies gilt für Vereine und Organisationen gleichermaßen wie für traditionelle Medien und private User*innen.

Wenn man postet, sollte man auf Vollständigkeit, Wahrheit und Relevanz achten. Je vollständiger und eindeutig zuordenbar Informationen sind und je weniger Spielraum sie dem Leser und der Community für Mutmaßungen lassen, desto seltener wird auch eine unerwünschte Folgekommunikation stattfinden.

Ein Faktencheck hat somit oberste Priorität – online gestellt wird nur, was auch zu hundert Prozent verifiziert ist. Sind zum Zeitpunkt der Berichterstattung noch nicht alle Fakten gesichert, können die Leser*innen darüber informiert werden – oder man sieht davon ab, das Posting zu diesem Zeitpunkt abzusetzen.

Hierzu gehört auch die Transparenz hinsichtlich der Motivation des Postens. Denn auch in diesem Punkt kann fehlende Information zu falschen Mutmaßungen und Anschuldigungen führen.

All dies kann in einem entsprechenden Entscheidungsbaum definiert werden – ein Modell dazu findet man in dem Beitrag „Der Alpinunfall in den sozialen Medien“ in analyse:berg, online nachzulesen unter: https://alpinesicherheit.at/alpinunfall-soziale-medien/

„Wir merken aber, dass soziale Medien eine gewisse Rolle spielen. Heute wird jeder, der mit Sandalen am Klettersteig unterwegs ist, der Gefahr erliegen, dass er gefilmt wird und das Video viral geht.“

Markus Thaler (Anästhesist & Flugrettungsarzt), analyse:berg Sommer 2024

Psychologische Betrachtungen

Zur Orientierung: zurück zum inneren Wertekompass, der für so viele Bergsteiger*innen gilt:

Freiheit / Unabhängigkeit

Für viele ist das Bergsteigen ein Gegenpol zum Alltag, zur Taktung, zu Regeln und Konventionen. Am Berg sind sie selbstbestimmt, weg vom Lärm, weg vom System.

Typische Aussagen:

  • „Da oben bestimme ich selbst.“
  • „Niemand schreibt mir vor, welchen Weg ich gehen muss.“
  • „Freiheit ist für mich, wenn ich mit Ski auf einen Gipfel gehe.“

Psychologisch betrachtet: Das Bedürfnis nach Autonomie ist ein Grundbedürfnis (Deci & Ryan), das sich beim Bergsteigen sehr direkt erfüllt.

Vertrauen / Verlässlichkeit (vor allem im Team)

In Seilschaften zählt, dass man sich aufeinander verlassen kann. Vertrauen in den* Partner*Partnerin, in das Material, in den eigenen Körper.

Typische Aussagen:

  • „Ich gehe nur mit Leuten, denen ich wirklich vertraue.“
  • „Am Berg zeigt sich, wie jemand wirklich tickt.“
  • „Wir haben uns wortlos verstanden, das ist Gold wert.“

Psychologisch betrachtet: Vertrauen ist ein zentraler Pfeiler sozialer Sicherheit – und in hochriskanten Umgebungen überlebenswichtig. Außerdem stärkt Vertrauen das Kohärenzgefühl, also das tiefe Vertrauen, dass das Leben einen Sinn hat, dass Herausforderungen verstehbar sind und dass man ihnen gewachsen ist (Antonovsky). Dies ist bei Bergmenschen stark ausgeprägt.

Verantwortung

Verantwortung für sich selbst, für andere, für die Natur. Viele Bergsteiger*innen tragen dieses Verantwortungsbewusstsein sehr bewusst – auch in der Abwägung von Risiko.

Typische Aussagen:

  • „Ich entscheide selbst, aber ich trage auch die Konsequenzen.“
  • „Ich will niemanden gefährden.“
  • „Es geht nicht nur um den Gipfel, sondern auch ums Wieder-Runterkommen.“

Psychologisch betrachtet: Hier wirkt das Konzept der Selbstwirksamkeit (Bandura) mit – also das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Herausforderungen aktiv zu gestalten. Verantwortung zu übernehmen gibt Sinn und stärkt das Selbstbild.

Natürlich könnte man noch andere starke Werte nennen – z. B. Erlebnis, Naturverbundenheit, Demut, Grenzerfahrung oder Gemeinschaft – je nach Subgruppe. Aber Freiheit, Vertrauen und Verantwortung bilden für mich die solide Basis.

Die Werte, die Menschen am Berg als grundlegend erleben, scheinen im digitalen Raum plötzlich zu verschwinden oder sogar ins Gegenteil verkehrt zu werden:

Freiheit wird ersetzt durch Urteil / Kontrolle

Am Berg bedeutet Freiheit: Ich entscheide selbst, ich gehe meinen Weg. Online jedoch – besonders nach Unfällen – kippt das oft in: „Wie konnte man nur so etwas tun?“ „Selbst schuld – bei Lawinenwarnstufe 4 geht man halt nicht raus.“

Was passiert? Die Freiheit des*der Einzelnen wird im Nachhinein kollektiv bewertet. Es entsteht ein Kontrollreflex: Menschen wollen Risiko rationalisieren, kategorisieren, um sich selbst sicherer zu fühlen. Psychologisch ist das eine Schutzstrategie gegen das Gefühl von Kontrollverlust – nach dem Motto: Wenn ich weiß, was der*die falsch gemacht hat, kann mir das nicht passieren.

Vertrauen wird ersetzt durch Misstrauen / Schuldzuweisung

Im Gelände ist Vertrauen zentral – in den*die Partner*in, in Entscheidungen, in gemeinsame Verantwortung.

Online: „Hat er seine Partnerin da reingezogen?“ „Wurde da überhaupt ordentlich geplant?“

Was passiert? Der Vertrauensraum „Seilschaft“ wird durch einen öffentlichen Gerichtssaal ersetzt. Besonders tragisch: Der Unfall zerstört nicht nur Leben, sondern oft auch nachträglich Beziehungen durch öffentliches Misstrauen. Psychologisch gesprochen: In der Anonymität der Kommentarspalten fehlt die soziale Einbettung, es dominiert das Bedürfnis nach kognitiver Kohärenz: Jemand muss schuld sein.

Verantwortung wird ersetzt durch Schuld / Moralisierung

Am Berg heißt Verantwortung: Ich bin mir der Risiken bewusst und trage die Konsequenzen.

Online wird daraus oft: „Völlig verantwortungslos, bei dem Wetter rauszugehen!“ „Solche Leute gefährden auch die Bergrettung!“

Was passiert? Es entsteht eine Moralisierung von Risiko. Verantwortung – die am Berg hoch geschätzt wird – wird im digitalen Raum zum Vorwurf. Der Unterschied ist subtil, aber tiefgreifend: Verantwortung ist aktiv, selbstbewusst, bewusst getragen. Schuld ist passiv, rückwirkend, beschämend.

Warum diese Umkehr?

  1. Emotionale Entlastung: Menschen wollen sich nach einem Unfall abgrenzen – emotional, moralisch, rational. „Ich bin anders, ich würde so was nicht tun.“ Das gibt Sicherheit, aber kostet Empathie.
  2. Digitale Disinhibition (Hemmungslosigkeit im Netz): Online fehlt oft der soziale Korrektiv-Rahmen. Der Blickkontakt, das Mitfühlen, die Zwischentöne fehlen. Das befeuert Urteile.
  3. Kognitive Vereinfachung komplexer Realität: Unfälle sind meist Ergebnis vieler Faktoren. Online will man schnelle Erklärungen, einfache Schuldige, klare Narrative.

Warum wir so schnell urteilen

Aus psychologischer Sicht ist das Verständnis für Fehler alles andere als trivial. Wer andere belehrt, stellt sich über sie. Damit verletzt er oft ein zentrales menschliches Grundbedürfnis: das nach Autonomie. In der Selbstbestimmungstheorie der US-Psychologen Edward Deci und Richard Ryan gilt Autonomie als eine der drei Grundvoraussetzungen für intrinsisch motiviertes Lernen. Wird dieses Bedürfnis untergraben, etwa durch bevormundende oder überlegene Kommunikation, reagieren Menschen häufig mit innerem Widerstand. Selbst gut gemeinte Hinweise werden dann abgelehnt – nicht, weil sie inhaltlich falsch sind, sondern weil sie als Angriff auf die eigene Entscheidungsfreiheit empfunden werden. Das erzeugt Hierarchien: „Ich weiß es besser als du.“ Beim Gegenüber löst das oft Scham, Trotz oder Abwehr aus. In der Psychologie spricht man hier vom sogenannten Reaktanz-Effekt: Menschen reagieren mit innerem Widerstand, wenn sie sich bevormundet fühlen – selbst dann, wenn der Rat eigentlich sinnvoll wäre.

Ein typischer Satz wie „Bei Lawinenwarnstufe 3 geht man dort halt nicht rauf“ mag sachlich korrekt sein. Aber er blendet aus, dass solche Entscheidungen in Echtzeit, mit unvollständigen Informationen, unter Druck oder in komplexen Dynamiken getroffen werden. Im Nachhinein zu urteilen ist leicht – hilfreich ist es selten.

Belehrung grenzt aus – Erklären öffnet Dialog

Wenn wir möchten, dass Menschen aus Fehlern lernen, brauchen wir eine andere Haltung. Eine, die erklärt, statt zu belehren.

Erklären bedeutet: Wir begegnen uns auf Augenhöhe. Statt zu fragen „Warum haben Sie das gemacht?“, könnten wir fragen: „Welche Faktoren könnten hier eine Rolle gespielt haben?“

Ein Beispiel:

  • Belehrend: „Wer bei Stufe 3 diesen Hang einspurt, ist selbst schuld.“
  • Erklärend: „Viele Unfälle passieren bei Stufe 3, weil die Bedingungen trügerisch sind. Wie kann man das besser einschätzen?“

So entsteht ein Lernraum. Menschen, die einen Fehler gemacht haben, wissen das oft selbst. Doch genau in diesem Moment sind sie besonders verletzlich. Scham- und Schuldgefühle können, wie die US-amerikanische Forscherin Brené Brown zeigt, das Lernen blockieren. Wenn sich jemand beschämt oder moralisch entwertet fühlt, schließt sich oft der innere Zugang zur Reflexion. Deshalb brauchen wir sogenannte „sichere Lernräume“ – Umgebungen, in denen Fehler nicht mit Bloßstellung, sondern mit Verständnis beantwortet werden. Nur so entsteht die Offenheit, aus Erlebtem tatsächlich etwas mitzunehmen. Die zentrale Frage ist nicht: Wer ist schuld? Sondern: Was können wir alle daraus mitnehmen?

Digitale Dynamiken: Wenn aus Verantwortung Schuld wird

In sozialen Netzwerken zeigt sich ein besonderer Mechanismus: Psychologisch betrachtet spricht man vom sogenannten Digital Disinhibition Effect (John Suler). Er beschreibt die Enthemmung, die viele Menschen in digitalen Räumen erleben. Ohne Blickkontakt, ohne unmittelbare Rückmeldung durch Mimik oder Körpersprache und oft anonym, verlieren viele die natürlichen sozialen Filter. Kommentare werden härter, Zuschreibungen extremer, Urteile schneller. Die fehlende soziale Nähe senkt die Schwelle für Moralisierung und öffentliche Anklage – gerade dann, wenn ein Thema emotional aufgeladen ist wie ein Bergunfall. Die Kommunikation verändert sich. Aus Verantwortung wird Schuld, aus Vertrauen Misstrauen, aus Freiheit wird das Nachrechnen von Fehlern.

Online-Kommentare sind schnell, hart, urteilsfreudig. Die sozialen Korrektive, die wir am Berg intuitiv beachten – Respekt, Zwischentöne, das gemeinsame Risiko – fehlen in der Anonymität des Netzes. Die Folge: Statt kollektivem Lernen entsteht eine Tribunalkultur. Besonders tragisch ist das für jene, die betroffen sind: Angehörige, Kamerad*innen, Retter*innen. Eine kritische Reflexion wird so unmöglich gemacht.

Fehlerkultur als eine Frage der Haltung

Fehlerkultur beginnt nicht mit Fakten, sondern mit Haltung. Denn Lernen geschieht nur dort, wo psychologische Sicherheit besteht – ein Konzept, das von der Organisationspsychologin Amy Edmondson geprägt wurde. Es beschreibt ein Klima, in dem Menschen sich trauen, Fragen zu stellen, Zweifel zu äußern und auch Fehler einzugestehen, ohne negative soziale Konsequenzen befürchten zu müssen. Gerade in risikobehafteten Kontexten wie dem Bergsport ist diese Sicherheit zentral: Nur wer sich sicher fühlt, reflektiert ehrlich und lernt nachhaltig.

Wenn wir als Bergcommunity – egal ob als Expert*innen, Autor*innen oder Kommentierende – möchten, dass aus Unfällen gelernt wird, dann brauchen wir eine Sprache, die erläutert statt bloßzustellen. Eine Kommunikation, die fragt statt urteilt. Eine Fehlerkultur, die die Würde der Beteiligten wahrt und gleichzeitig das Lernen fördert.

Denn: Wer belehrt, schafft Distanz. Wer erklärt, schafft Verständnis. Und nur wer versteht, kann lernen.

„Soziale Medien sind wie ein überdimensionierter Stammtisch, wo jeder über alles erzählt und alle zuhören. Unterschied ist die fehlende soziale Kontrolle durch direkte Interaktion.“

Warum wir das gemeinsam schreiben

Wir – Riki Daurer und Pauli Trenkwalder – beschäftigen uns beide seit Jahren mit dem, was am Berg passiert. Riki aus der Perspektive der Medien und digitalen Kommunikation, Pauli als Psychologe und Bergführer. Was uns verbindet, ist nicht nur „das Draußensein“, sondern auch die gemeinsame Irritation darüber, wie im Netz über Bergunfälle gesprochen wird. Schnell wird geurteilt, bewertet, moralisiert – oft ohne Kontext, dafür mit viel Meinung. Manche Kommentare sind schwer auszuhalten.

Gerade deshalb finden wir unsere Zusammenarbeit bereichernd. Wir bringen unterschiedliche Zugänge ein, fragen einander, ordnen gemeinsam ein und unterstützen uns darin, digitale Dynamiken und Motivationen besser zu verstehen. Und wir wollen verbinden – Themen, Professionen und Expertisen: Pauli ist Bergführer und somit professioneller Alpinist, Riki Hobby-Bergsteigerin – was eigentlich egal ist, nur im Falle eines Unfalls doch auch zu unterschiedlichen Bewertungen führt. Riki beschäftigt sich hauptberufliche mit digitalen Medien, mit technischen und operativen Abläufen und Online-Phänomenen. Pauli ist als Psychologe primär analog unterwegs. Für Phänomene, die im Netz oft den sozialen Medien als Einzigartigkeit oder Merkmal zugeordnet wird, findet Pauli das Pendant in der Allgemeinen Psychologie.

Diese Zusammenarbeit hat sich auch in der „Shitstorm Agency – Agentur für Fehler- & Kommunikationskultur im Netz“ verdichtet. Ein Ort, an dem wir versuchen, das laute Netzverhalten verstehbar zu machen – ohne selbst laut zu werden.

Und wenn’s zu viel wird? Dann gehen wir raus. In die Berge. Dorthin, wo Respekt und Verantwortung mehr zählen als Klicks. Wir kultivieren unsere eigene Resilienz – nicht online, sondern im Gelände.

Ach ja – wir sind gerne auf sozialen Netzwerken aktiv. Wir posten, wir kommentieren. Und stellen uns immer wieder die Frage: Was tut mir gut? Und was macht mein Kommentar mit anderen?

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